Bekannte ignorieren gehört in München zum guten Ton!

© Anna Rupprecht

In Print-Zeitschriften gehört es dazu, dass der Herausgeber auf der ersten Seite die Stimmung, Meinung oder Richtung der jeweiligen Ausgabe einfängt. Warum gibt es das auch nicht online?, haben wir uns gefragt. Denn genauso schwirren jede Woche Gefühle, Stimmungen und Meinungen durch München, die wir zwar mitbekommen, aber nirgends festhalten. Diese Kolumne ist der Platz, an dem ich all meine Gedanken zu München und dem, was mir diese Woche in der Stadt begegnet ist, sammle. Heute: In keiner anderen Stadt muss man so gut ignorieren lernen wie hier!

München ist klein. Wie klein wird einem tatsächlich beim U-Bahn-Fahren bewusst. Ansonsten verteilen wir uns aber auch alle recht gut über die Stadt – auf verschiedene, recht gleich-coole Viertel, auf gute Bars, Cafés, Restaurants und auf dann doch mehr Freundeskreise, als man zuerst so annehmen möchte. Aber beim U-Bahn-Fahren kommen alle zusammen – die Schwabinger und die Giesinger, die Ex-Freunde und die One-Night-Stands, die ehemaligen Kollegen und die neuen Chefs, die Jungs aus der 14 und die Mädels aus dem Katopazzo. Und genau das macht den Münchner Untergrund manchmal zu einer echten Gefahrenzone.

Wer länger in München wohnt, hat das Ignorieren schon perfektioniert: Ein authentischer Mix aus U-Bahn-Plan studieren, Instagram studieren und Umwelt studieren.

Obwohl unser MVG-Netz auf den ersten Blick nun nicht gerade klein ist, gibt es halt doch nur wenige spannende Stationen, an denen sich das Aussteigen lohnt und an denen eben auch alle aussteigen: Fraunhoferstraße, Uni, Sendlinger Tor. Wir dürfen nicht vergessen: München hat im Gegensatz zu anderen, richtigen Großstädten nur ein Zentrum und so ist der Erste-Ring-Speckgürtel nun mal der spannendste Teil der Stadt. Dementsprechend begrenzt ist auch das Gelände, in dem wir so unterwegs sind – ganz egal, ob wir in der Altstadt oder in Berg am Laim wohnen – und uns zufällig begegnen können.

Als regelmäßiger U-Bahnfahrer vergeht eigentlich kein Tag, an dem man nicht jemanden, den man zumindest flüchtig kennt, in irgendeinem Untergeschoss sitzen oder stehen sieht. Darunter natürlich auch ziemlich viele Personen, die man nicht unbedingt wieder treffen möchte. Oder um genau zu sein, manchmal auch nie wiedersehen wollte. Wer länger in München wohnt, hat das Ignorieren schon perfektioniert: Im besten Fall ist es ein authentischer Mix aus U-Bahn-Plan studieren, Instagram studieren und Umwelt studieren – nur eben in die ganz andere Richtung.

Vielleicht ist es sogar die einzige Stadt, in der das Ignorieren von flüchtigen Bekannten zum guten Ton gehört.

Bevor nun aber manch einer hier empört den Finger hebt und jenes Verhalten unfreundlich schimpft, möchte ich euch fragen: Wollt ihr wirklich jedem einzelnen eurer flüchtigen Facebook-Freunde begegnen und mit ihm in einem niedrigen Raum ohne Sauerstoff um acht Uhr morgens Smalltalk halten? Hinzu kommt ja: Manchmal weiß man im ersten Moment auch gar nicht mehr, woher man den Anderen kennt – dementsprechend schwierig ist die Themenfindung. Also besser weggucken.

Ja, ich gehe soweit zu behaupten, dass das in München aufgrund der Häufigkeit von zufälligen Treffen total in Ordnung ist. Vielleicht ist es sogar die einzige Stadt, in der das Ignorieren von flüchtigen Bekannten zum guten Ton gehört. Weil vergessene Namen und vergessene Kennenlernen ziemlich sicher zum schlechten Ton gehören. Und alles kann sich ja keiner melden, bei den vielen Bekannten in einer Stadt. Bevor man also ganz viel falsch macht, macht man besser gar nichts. Und das Tolle an München ist ja, dass jeder das Ignorieren drauf hat, die Spielregeln kennt und dementsprechend auch nicht böse ist, wenn man eben nicht "Hallo" sagt.

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