Ganz der Baba #20 – Und sie nannten ihn Brathähnchen

© Marie Lechner

Eine der unauffälligen Mutationen als Vater oder Mutter ist die akribische Beobachtung des Wetters. Mit Kindern bestimmt das Wetter deinen Tag um einiges dominanter als ohne. Du hast frei, es regnet und hast keine Kinder? Easy! Die größte Sorge ist eigentlich bloß, ob dein Graserlhaushalt noch passt und ob Netflix noch genug Bingematerial für dich parat hat. Es regnet und du hast Kinder? Ok, wo ist die Regenlücke? Wie ist die Windstärke? Wie kalt? Wie warm? Die Option, einfach drinnen zu bleiben und Gummibärenbande zu suchten, hast du zumindest mit einem Zweijährigen nicht wirklich.

Also ziehe ich Teddy einmal komplett durch die Gummikleidungsabteilung in seiner Garderobe und raus geht's auf den Spielplatz, der aufgrund der Bodenbeschaffenheit die meisten Pfützen verspricht. Ungewollte Pfadfinderskills. Auf dem Spielplatz angekommen läuft Teddy auf einen Jungen zu, der sich später als “Augustin“ herausstellt und mit einem Ball spielt, den Teddy sich kurzerhand schnappt. Augustin verliert die Fassung und schreit das strahlende Haarknäuel von Sohn an.

Du hast frei, es regnet und hast keine Kinder? Easy! Die größte Sorge ist eigentlich bloß, ob dein Graserlhaushalt noch passt und ob Netflix noch genug Bingematerial für dich parat hat.

Auftritt Mama Augustin:

„Augustin du musst dem Mädchen sagen, dass man Ball mit dem Fuß spielt hörst du? Mit dem Fuß!“

Teddy steht weiter unverändert dort und hält den Ball strahlend in der Hand. Ich schlage in meinem inneren Duden nach und finde Augustin leider nicht unter “gechilltes Kind“, weshalb ich Teddy auf Arabisch darauf hinweise, den Ball bitte dem Jungen zurück zu geben. Für Mama Augustin ist die Situation also endlich geklärt:

„Augustin! Das Mädchen versteht dich nicht! Deswegen gibt es dir den Ball nicht! Es ist nicht von hier!"

Augustin nimmt sich also den Ball aus Teddys Händen und ich nutze die Gelegenheit, um Teddy unseren Ball entgegen zu werfen. Das gute an dem kleinen Kerl ist, dass er sich verdammt leicht ablenken lässt.

Ich mag Brathähnchen zwar bis heute, aber dieser Junge hat mein Aussehen offen zum Objekt der Belustigung gemacht und ich wusste mir als Sechsjähriger nicht anders zu helfen als zu weinen.

Mit einem „Wilkommen in Deutschland“-Lächeln dreht sich Mama Augustin wohlwollend um und geht mit ihrem Sohn in die Ecke des Spielplatzes, die am weitesten von uns entfernt ist. Während ich also mit Sohnemann weiterspiele, denke ich nach. Warum habe ich ihr nicht vermittelt, dass ich sehr wohl deutsch spreche? Warum bin ich einfach so aus der Situation gegangen? Bin ich hier der Idiot?

Ich bin in einem sehr kleinen Dorf am Niederrhein groß geworden und in meiner katholischen Grundschule wusste man zunächst nicht, ob muslimische Kinder überhaupt unterrichtet werden dürfen. In den ersten Tagen der ersten Klasse kam ein Junge auf mich zu und schrie mich an:

„Du bist ja so braun wie ein Brathähnchen! Brathähnchen! Brathähnchen!“

Ich mochte und mag Brathähnchen zwar bis heute, aber dieser Junge hat mein Aussehen offen zum Objekt der Belustigung gemacht und ich wusste mir als Sechsjähriger nicht anders zu helfen als zu weinen. Meine Eltern rieten mir „drüber zu stehen“, „Größe zu zeigen“ oder „Humor zu haben“. Bis heute habe ich diese deeskalierende, humorvolle Weise verinnerlicht.

Ich bin bis heute immer der erste, der einen Witz mit Bezug auf meine Herkunft macht. Eine klassische Flucht nach vorn, die schon sehr gut geklappt hat, als ich noch ein dicker Junge war.

Mir ist nie ein Nazi mit brennenden Mistgabeln hinterhergerannt. Ich wurde auch nie öffentlich beschimpft (bis auf das Brathähnchen) – und ich bin froh darum. Aber muss das erst passieren, um meine bequeme Couch des “drüber stehens“ zu verlassen? Reicht mein “drüber stehen“ noch oder ist es nicht eigentlich ein schön verpacktes wegschauen?

Ich bin bis heute immer der erste, der einen Witz mit Bezug auf meine Herkunft macht. Eine klassische Flucht nach vorn, die schon sehr gut geklappt hat, als ich noch ein dicker Junge war. Doch ich muss mich fragen: Soll mein Sohn möglichst konfliktfrei durchs Leben gehen oder soll er nicht viel lieber das Talent besitzen, ein unpopuläres Thema voller Liebe und Humor anzusprechen?

Irgendwann verlor ich die Beherrschung und habe mich so lange auf ihn gesetzt bis er schwor, mich nie wieder so zu nennen.

Ich würde an dieser Stelle zu gerne schreiben, dass der Junge, der mich Brathähnchen nannte, irgendwann von mir in einem supersmarten Monolog zum Heulen gebracht wurde, aber so war es nicht. Irgendwann verlor ich die Beherrschung und habe mich so lange auf ihn gesetzt bis er schwor, mich nie wieder so zu nennen.

Der Regen wird heftiger und Teddy hat Hunger, also verspreche ich ihm Nudeln. Auf dem Heimweg läuft er Augustin über den Weg und verabschiedet sich mit „Pfiadi“. Also mal ehrlich: Drüber stehen hin oder her, aber die Fresse von Mama Augustin war Gold wert.

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