Diese Bank hat mein Leben verändert: Die Geschichte von Alfred
Wenn irgendwo eine neue Parkbank hingebaut wird, fällt das in der Regel niemandem auf. Außer sie steht an einem besonders ungünstigen Ort. Wie die Bank von Alfred – direkt an einer Straßenkreuzung in Schwabing-West. Hier trifft die Winzererstraße die Hildeboldstraße, die zugezogene Schwabinger Familie auf den alteingesessenen Rentner, der schon immer hier wohnt. Das Viertel ist eine Mischung – aus jung und alt, reich und arm, Neu- und Altbau, Porsche und Panda.
"An dieser Kreuzung ist immer was los", erzählt Alfred. Er muss es wissen, denn solange die Sonne scheint, sitzt er hier. Solange es zumindest nicht regnet, was in diesem Sommer ja öfter vorkommt. Vor drei Jahren ließ die Stadt hier neue Bänke bauen. Seitdem hat Alfred endlich einen Ort, an dem er sein kann – abgesehen von seiner Wohnung. Der 81-Jährige sitzt im Rollstuhl, zu Fuß gehen kann er nur noch mit einer Gehhilfe und viel Zeit. Die Parkbank ist vielleicht zwölf Meter von seiner Haustüre entfernt – weiter weg dürfte sie nicht sein.
Die Bank ist ein zweites Wohnzimmer, sein Kleingarten und Balkon in einem. Sie ist die Möglichkeit, endlich wieder mit der Welt in Kontakt treten zu können.
Die Bank ist sein zweites Wohnzimmer, sein Kleingarten und Balkon in einem. Sie ist die Möglichkeit, endlich wieder mit der Welt in Kontakt zu treten. Leute kennenzulernen, zu ratschen, seine Geschichten zu erzählen, den jungen Mädchen auf dem Fahrrad hinterher zu gucken. Die Parkbank gehört Alfred ganz alleine, es ist irgendwie seine Bank geworden. Niemand anderes möchte sich hier unbedingt niederlassen, es gibt keinen Grund dazu – doch für ihn ist sie eine Chance wieder teilhaben zu können. Trotz Rollstuhl, trotz Alter, trotz der zahlreichen Rückschläge.
Seit dem Schlaganfall vor elf Jahren ist Alfred halbseitig gelähmt. Wenn er erzählt, muss man ihm sehr genau zuhören, um ihn zu verstehen. Der Kehlkopfkrebs, den er mit Mitte 40 bekam, macht die Sache nicht einfacher. Alfred ist ein Mann, bei dem man sofort spürt, dass er in seinem Leben viel gesehen hat. "Viel Scheiß erlebt", so würde er sagen. Und trotzdem oder genau deswegen ist er alles andere als verbittert. Wenn man ihm auf der Bank begegnet, grüßt er freundlich. Jeder aus dem Viertel kennt ihn mittlerweile. Nur ein paar Einzelne grüßen nicht zurück – ansonsten ist Alfred zufrieden mit seiner Quote.
Sobald die Musik läuft, ist Alfred wieder da – bei seinem Auftritt vor 38 Jahren im Café Amely im Kleinwalsertal.
"Früher war ich bekannt wie a bunter Hund", erzählt er in seiner Wohnung, fährt mit dem Rollstuhl zu seinem Fernseher und legt eine CD auf. Die Tonbandaufnahme ist von einem seiner Konzerte – "The great Jupiters" hieß die Band, die Alfred mit zwei Freunden fast zwanzig Jahre lang hatte. Sie coverten, schrieben eigene Songs, tourten durch Deutschland. Sobald die Musik läuft, ist Alfred wieder da – bei seinem Auftritt vor 38 Jahren im Café Amely im Kleinwalsertal. Seine Augen leuchten, seine Füßen wippen mit. Er, der Sopran-Sänger.
Was folgte, war ein schnelles, eigentlich gutes Leben – neben der Band arbeitete Alfred als Maler, heiratete, ließ sich scheiden. Aus der Ehe ging eine Tochter hervor. Die hat er erst vor ein paar Jahren kennengelernt, sie schrieb ihm einen Brief. Geld war irgendwie immer da, ein BMW und ein Opel Kadett Cabrio, ein Haus im Münchner Umland, eines in Spanien. Auf seinem Fernseher sieht man alte Camcorder-Aufnahmen: die großzügige Terrasse, das Schlafzimmer, neue Möbel, der Garten.
Er sitzt nun schon eine Weile auf der Bank und schaut den Mädchen hinterher, aber so eine Schöne wie die Gisela, hat er seitdem nicht mehr getroffen.
Heute sitzt Alfred in einer kleinen Wohnung in Schwabing-West. Einen Balkon gibt es, doch die Sonne scheint nicht mehr ganz so großzügig herein. Von seinen tausend Euro Rente gehen alleine 600 für die Miete weg. Alfred war ein großzügiger Mensch. Ihm ging es gut, also wollte er, dass es den Anderen auch gut geht. Mehr als ein Mal lieh er, wie er meinte, "guten Freunden" große Summen. Selten bis nie bekam er das Geld zurück. Von seinem Ersparten ist heute nicht mehr viel übrig.
Im Bücherregal steht ein Foto einer schönen, jungen Frau. "Das ist Gisela", erzählt Alfred. Sie war Fotomodell und Modezeichnerin, 1,75 groß, seine "echte Liebe", wie er sagt. Als die beiden sich trafen, war Alfred 32, Gisela gerade einmal Anfang 20. Er erfüllte ihr den Wunsch einer eigenen Modeboutique in Germering. Und nicht nur diesen – im Laufe seinen Lebens kamen immense Beträge zusammen, die Gisela sich von ihm lieh. Heute ist sie irgendwo in Paraguay, Kontakt haben sie keinen mehr. Er sitzt nun schon eine Weile auf der Bank und schaut den Mädchen hinterher, aber so eine Schöne wie die Gisela, sagt er, hat er seitdem nicht mehr getroffen.