Warum Tinder das Romantischste ist, was uns heute noch passieren kann

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„Sagen wir einfach, wir hätten uns im Supermarkt kennengelernt“, lese ich in einem Profil, kurz bevor ich weiter wische. Wenn man sich im Leben selbst bei etwas ertappen könnte, dann wäre das wohl einer von diesen Momenten: Wie ich durch die Männer meiner Stadt blättere, obwohl doch niemand so sehr gegen Tinder war wie ich.

Sobald mir eine Freundin den Chat mit ihrer neuen App-Bekanntschaft zeigte, dachte ich „irgendwie traurig“. Sobald mir jemand von seinem letzten Tinder-Date berichtete, fand ich es „irgendwie überflüssig“. Und sobald dann einmal mehr herauskam, dass der Andere nur Sex wollte, eigentlich eine Freundin hatte oder seine Seelenverwandte leider beim Date darauf kennengelernt hatte, sagte ich: „Irgendwie keine Überraschung.“

Sich „in echt“ kennenlernen, das heißt in öffentlichen Verkehrsmitteln, in einer Bar oder im Café beim Sonntagsbrunch, fand ich besser, authentischer, irgendwie sicherer und natürlich viel romantischer. Diese Geschichten klingen aber auch immer sehr gut, wenn man sie erzählt: „Er hat mich in der Straßenbahn angesprochen. Ich habe ihn auf dem Straßenfest nach seinem Namen gefragt.“

Wer dagegen auf Tinder einfach nur „Hey!“ schreibt, wird niemals ein verzücktes „Oh!“ der besten Freundin bekommen.

Meine vielleicht romantischste Kennenlerngeschichte begann auf einer Party. Eine Freundin meinte noch: Der gefällt dir doch bestimmt. Irgendwann trafen sich tatsächlich unsere Blicke, wir im Gespräch, wir draußen bei einer Zigarette, wir uns letztendlich in der Menge verloren. Na, toll. Ich hatte nichts, nur einen Vornamen. Ein paar Tage später bekam ich dann eine SMS – er hatte sich unseren einzigen, gemeinsamen Freund gemerkt und ihn nach meiner Nummer gefragt.

Wer mit so einer Einleitung startet, der hat das verzückte „Oh!“ der besten Freundin schon sicher – auch, wenn alles, was danach kommt, in der Regel nicht mehr ganz so verzückend ist wie das Kennenlernen. Wer dagegen auf Tinder einfach nur „Hey!“ schreibt, wird nie eine Einleitung bekommen. Und das ist, wie ich mittlerweile finde, verdammt schade.

Vom großen Pool zu einer Handvoll Menschen

Denn Tinder ist wahrscheinlich das Romantischste, was uns heute noch so passieren kann. Darüber kann man traurig sein, man kann den Kopf schütteln und es eine „furchtbare Entwicklung“ schimpfen oder man schaut sich einmal genauer an, was da eigentlich passiert.

Ein nahezu unerschöpflicher Pool an Menschen – laut Zeit Magazin sind 42 Prozent davon in einer Beziehung oder verheiratet. Ungefähr doppelt so viele wollen nichts als Bestätigung und schnellen Sex. Das erzählen nicht nur meine Freunde und mein eigenes Tinder-Postfach, sondern auch eine Studie, die Dr. Wera Aretz an der Hochschule Fresenius Köln im Rahmen ihrer Arbeit „Match me if you can“ gemacht hat. Laut dieser wird „Tinder vorrangig aus dem Motiv des Zeitvertreib und Amüsements genutzt [...] und zur Erzielung von Bestätigung“ genutzt.

Wir stellen an Tinder keine unerfüllbaren Romantik-Erwartungen wie an das reale Kennenlernen – deshalb trauen wir uns hier mehr.

Es bleiben also nur eine Handvoll Prozent übrig, die keine Selbstwert-, Sex- oder Bindungsprobleme haben und wirklich daran interessiert sind, einen anderen Menschen kennenzulernen. Wenn man dann überlegt, dass man nicht nur dieselben Ziele haben, sondern sich auch gegenseitig gut finden muss, schrumpft der Prozentanteil noch einmal rapide zusammen.

Ja, und dann muss man sich natürlich riechen können, die Stimme des Anderen gut finden, über dieselben Witze lachen und so weiter. Und sich irgendwann – trotz unendlichem Pool in seinem Smartphone – füreinander entscheiden. Das ist schon ziemlich romantisch. Und selten, wie Aretz in ihrer Studie feststellte: „Die Erfolgsquote bei der Entwicklung einer festen Partnerschaft durch die Tindernutzung [ist] mit 33% relativ gering“.

Tinder
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Nun könnte man sagen: All diese Dinge müssen sich aber genauso erfüllen, wenn man jemanden in einer Bar kennenlernt. Das stimmt natürlich, die Sache ist nur: Wir lernen uns fast nicht mehr „in echt“ kennen. Und schon gar nicht in diesen Massen, wie es dank Tinder möglich ist. In nur zwei Tagen mit der App habe ich mehr Männer aus meiner Stadt kennengelernt als in den letzten vier Jahren.

Das liegt allerdings nicht an der Auswahl – die ist vor der Haustüre genauso groß, sondern vor allem an uns selbst. Wir stellen an Tinder keine unerfüllbaren Romantik-Erwartungen wie an das reale Kennenlernen – deshalb trauen wir uns hier auch mehr und bringen die Leichtigkeit mit, die es fürs Kennenlernen braucht.

Unsere unerfüllbare Sehnsucht nach Romantik

Die Sache ist nämlich: Im echten Leben ist da bei uns etwas ins Ungleichgewicht geraten. Auf der einen Seite träumen wir zwar von der großen Romantik, wünschen uns eine glückliche Beziehung, die möglichst genauso glatt verlaufen soll, wie unser Lebenslauf – auf der anderen Seite können wir sie nicht leben. Weil unsere eigenen Erwartungen uns lähmen. So sehr, dass wir oft schon nicht einmal mehr jemanden in einer Bar nach seinem Namen fragen können.

Da stalken wir ihn doch lieber am nächsten Tag auf Instagram. Oder gehen eben gleich auf Tinder. Immer mehr Menschen nutzen die App – in Deutschland sind es rund zwei Millionen und 8000 kommen täglich dazu. So gut kann es also in Bars nicht laufen. Ist aber auch einfacher – bei Tinder bekommt man, solange es beim Match bleibt, durch die Bank ausschließlich positives Feedback. Von Körben erfährt man nie.

Wir sind ein bisschen zu cool geworden für die Liebe. Tinder haben wir uns schon ganz alleine eingebrockt.

Denn, obwohl wir vielleicht manchmal anders rüberkommen, sind wir alle zutiefst romantisch. Zumindest aber zutiefst sehnsüchtig. Fast alle meine Freunde, ob Frauen oder Männer, haben wahnsinnig hohe Romantik-Vorstellungen vom Kennenlernen, von Beziehungen, vom Zusammenziehen, Heiraten, Kinder kriegen.

Das zeigt sich nicht nur daran, dass heute immer mehr Geld für Hochzeiten ausgegeben wird – vom Kaviar Gauche-Kleid bis zum eigenen Vimeo-Hochzeitsfilm muss alles dabei sein. Dass Blogs und Instagram uns die perfekten Bilder von perfekten Paaren (Stichwort #couplegoals) zeigen oder perfekte Familien ihr perfektes Familienleben im Internet inszenieren, macht das natürlich nicht gerade besser. Der Druck steigt, ebenso wie unsere Erwartungshaltung.

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Zudem haben wir diese hohen Romantik-Vorstellungen auch von unseren Eltern. Die sind zwar in den meisten Fällen geschieden, unsere Träumereien allerdings eine Art Gegentrend zu deren Beziehungen. Eine tiefe Sehnsucht. Und so stellen wir heute Erwartungen an die Liebe, die diese gar nicht erfüllen kann.

Unsere Großeltern waren wahrscheinlich deshalb glücklicher, weil sie nicht so viel von ihrer Beziehung, dem Gegenüber, einer einfachen Kennenlerngeschichte und der Romantik im Allgemeinen erwartet haben. Weil sie nicht so sehr in sich selbst gefangen waren, wie wir es heute sind.

Zudem sind wir auch ein bisschen zu cool geworden für die Liebe. Tinder haben wir uns also schon ganz alleine eingebrockt. Und anstatt uns dafür zu schämen und zu erzählen, dass wir uns im Supermarkt kennengelernt haben, sollten wir uns freuen und Tinder als das nehmen, was es ist: Die größtmögliche Romantik im Jahr 2016.

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