Unser neues Schönheitsideal: Möglichst viel arbeiten
Sonntagabend, definitiv nach 20 Uhr: Ein Facebook-Freund postet ein Büro-Foto aus seinem stylischen Loft-Workspace, versehen mit der baldigen Deadline, die er dank Wochenendschicht selbstverständlich einhalten wird. "Ihr seid doch verrückt", würde meine Mama da sagen. Und ich wünschte, mein Kopf würde das auch – doch der stellt sich leider die Frage "Wie zum Teufel macht der das?" und kann sich dabei nicht ganz zwischen Angst und Bewunderung entscheiden.
Angst, weil ich das Gefühl habe, mittlerweile arbeitet einfach jeder so viel. Viel arbeiten gehört heute zum guten Ton – und nach oben hin sind dem verschobenen Feierabend und dem Herzrasen erst einmal keine Grenzen gesetzt. Bewunderung, weil ich selbst schon Tage und Wochenenden hatte, an denen ich durchgearbeitet habe. Und danach nichts mehr konnte. Nicht einmal ein Foto auf Facebook posten. Danach war einfach alles ein großer Brei und ich nur noch eines: leer.
Unter dem Deckmantel des Jammerns prahlen wir eigentlich mit unseren 60-Stunden-Wochen und dem Wochenenddienst.
Von diesem Gefühl habe ich meiner Mama nie erzählt, denn sie würde sagen: "Ja, spinnst du denn?". Und Recht hat sie (einmal mehr) – ich spinne absolut. Die Sache ist nur die – es passiert halt so heimlich, schnell und leise, dass es mir gar nicht mehr auffällt. Und das Schlimmste daran: Es ist so schrecklich normal viel zu arbeiten, dass es niemandem mehr richtig auffällt.
Denn unter dem Deckmantel des Jammerns prahlen wir eigentlich mit unseren 60-Stunden-Wochen und damit, dass wir am Wochenende "mal wieder" durcharbeiten "mussten". Was wir verschweigen: Eigentlich wollten wir das auch ein bisschen. Und natürlich sind wir wahnsinnig mitleidig, wenn wir davon erzählen, dass wir bis 23 Uhr im Büro saßen, aber es schwingt auch immer mit, dass wir Anerkennung für unsere freiwilligen Überstunden wollen. Wir möchten gelobt werden.
Arbeit nach Feierabend oder am Wochenende bringt auf den ersten, flüchtigen Blick aber auch erst einmal viele Vorteile. Bevor man sinnlos nichts tut, sich langweilt oder sich gar mit sich selbst beschäftigen muss, kann man heute zum Glück von überall aus und damit immer arbeiten – und somit endlich seine komplette Zeit sinnvoll nutzen. Es winken: erledigte Aufgaben und Häkchen auf der To-Do-Liste, Anerkennung von Anderen, das Gefühl, etwas getan zu haben und weniger Stress am nächsten Tag.
Alleine der letzte Punkt entpuppt sich beim zweiten, genaueren Blick aka in der Praxis als absolute Falle in sich. Denn, der Mensch (oder zumindest ich) funktioniert eher so: Umso mehr man arbeitet, desto mehr arbeitet man. Und eben dieser Strudel aus gesetzten Häkchen und stiller Bewunderung von allen Seiten führt dazu, dass man ein bisschen süchtig wird. Dass man am nächsten Tag nicht weniger macht, sondern eher noch mehr. Oder zumindest genauso viel.
Was wir dabei aber vergessen: Dein Abend und dein Wochenende sind vor allem für eines da – für dich.
Was wir dabei aber vergessen: Dein Abend und dein Wochenende sind vor allem für eines da – für dich, fürs Nichtstun, für das Gefühl, zu vergessen, wie spät es ist und eben auch vor allem für Langeweile. Und genau die verlernen wir durch die Möglichkeit immer arbeiten zu können und dafür auch noch Applaus zu ernten.
Das merkt man dann entweder erst, wenn man ernsthaft krank wird oder, wenn man so wie ich an einem Samstagnachmittag in seiner Wohnung sitzt und feststellt, dass man sich eigentlich über nichts mehr freuen kann. Weder über einen gebuchten Urlaub noch über das neue Kleid, das da hängt oder all die schönen Sachen, die man heute machen könnte. Man stellt fest, dass man irgendwo auf halbem Weg den Bezug zu sich selbst verloren hat und damit auch gleich die Fähigkeit, sich selbst zu beschäftigen.
So richtig klar wird es einem hoffentlich, wenn man dann mal wieder ausschließlich von Dingen umgeben ist, die wirklich wichtig sind. Und dazu zählt kein neues Kleid, kein Urlaub und kein Applaus. Sondern deine Familie, gute Gespräche am Küchentisch und ganz viel Zeit. Nachdenken, komplett sinnlose Dinge tun, einen Tag, ach eine ganze Woche einfach vertrödeln. Merken, wer man eigentlich so ist ohne diese ganze Arbeit und feststellen: Hey, da ist ja doch noch ganz schön viel da.
Und deshalb sage ich ganz laut zu mir selbst und hier etwas leiser: Schluss damit! Schluss damit, dass die Arbeit immer die 1a-Ausrede ist. Schluss damit, dass wir Menschen bewundern, die mehr arbeiten, als gesund ist. Die zum Frühstück schon E-Mails lesen und nach 23 Uhr immer noch antworten. Schluss damit, dass wir uns verlieren in Aufgaben, Deadlines und Meetings, die im Endeffekt natürlich wichtig sind, aber halt auch niemals so wichtig, wie wir sie machen.
Arbeit ist zum Geld verdienen da, sagte ein Fotograf letztens zu mir. So habe ich das noch gar nicht gesehen.
Auf einer Veranstaltung sagte ein Fotograf letztens zu mir, als wir über den Job sprachen: "Die Arbeit ist zum Geld verdienen da". Diesen einfachen Satz habe ich seitdem nicht vergessen und muss gestehen: So habe ich das schon lange nicht mehr gesehen. Denn zwischen all der Selbstverwirklichung, den stylischen Loft-Workspaces und unseren coolen Jobs, mit denen wir hausieren gehen, vergisst man manchmal, dass wir das vor allem machen, um unsere Miete bezahlen zu können.
Und diesen Gedanken möchte ich mitnehmen ins neue Jahr. Nun habe ich eine Vier-Tage-Woche. Mit einem Tag in der Woche nur für mich und für all die Dinge, die ich gerne mache. Die erste Frage, die einem gestellt wird, wenn man von seinem 30-Stunden-Job erzählt, ist zwar ein verblüfftes: "Und was machst du am fünften Tag?" – aber das kann ich mittlerweile schon ganz gut überhören. "Ach, nichts eigentlich", antworte ich dann, "meistens langweile ich mich einfach mal wieder so richtig." Ganz ohne Applaus und fishing for compliance.