Eskalation gibt es in München nicht – außer zur Wiesn

© Anna Rupprecht

In Print-Zeitschriften gehört es dazu, dass der Herausgeber auf der ersten Seite die Stimmung, Meinung oder Richtung der jeweiligen Ausgabe einfängt. Warum gibt es das auch nicht online?, haben wir uns gefragt. Denn genauso schwirren jede Woche Gefühle, Stimmungen und Meinungen durch München, die wir zwar mitbekommen, aber nirgends festhalten. In dieser Kolumne ist Platz, um all meine Gedanken zu München und dem, was mir in der Stadt begegnet ist, zu sammeln. Heute: Die Münchner eskalieren leider nur zur Wiesn.

Eskalation gibt es in München nicht. Zu dieser steilen These wage ich mich jetzt mal. Man beobachtet es ja – bei seinen Freunden, bei Freunden von Freunden, bei sich selbst: Die Münchner gehen schon aus, vor allem in Bars, aber danach halt meistens auch wieder heim. Woran das liegt? Naja, zum einen ist die Auswahl an Clubs, wenn man nicht gerade Drogen nimmt und stundenlangen Techno hören möchte, in unserer Stadt eher gering und zum anderen erlauben es sich die Münchner nicht, am nächsten Tag komplett fertig zu sein.

Da arbeitet man also fünf Tage die Woche schwer und an den zwei Tagen Wochenende kann und will man es sich nicht erlauben, die Hälfte davon im Bett zu verbringen.

Denn München ist eine Arbeiter-Stadt, nur im etwas anderen Sinne. Hier gibt es nicht nur Arbeit, man muss auch wirklich dran bleiben, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Tausend Euro im Monat? Joah, davon kann man in München schon leben, aber ist dann halt scheiße. Nina hat ja auch schon mal darüber geschrieben, dass fast alle Münchner noch einen Nebenjob haben, sicherlich auch, weil die Abwechslung schön ist, vor allem aber natürlich, weil das Geld notwendig ist.

Aber zurück zur Eskalation: Da arbeitet man also fünf Tage die Woche schwer und an den zwei Tagen Wochenende kann und will man es sich nicht erlauben, die Hälfte davon im Bett zu verbringen. Zum einen, weil die Zeit knapp ist, zum anderen, weil sie bitte möglichst effektiv genutzt gehört. Stichwort Ausflug. Wer zumindest nicht ab und an unser wunderschönes Umland erkundet und auf Instagram hochlädt, der bekommt nicht nur schiefe Blicke von Anderen, sondern ein richtig schlechtes Gewissen von sich selbst noch dazu. Wir leben in so einer schönen Stadt – und das will und muss genutzt werden, sobald man mal frei hat.

So wie man auf einem Festival in den crazy Borat-Einteiler schlüpft, um zumindest für ein paar Tage seinem sonst eher langweiligen Leben zu entkommen, tragen viele zur Wiesn Tracht, um geschützt von einer Verkleidung mal vollkommen auszurasten.

Apropos, frei haben – mit Urlaubs- und Krankheitstagen wird dann in den magischen zwei September-Wochen überhaupt nicht gegeizt. Zur Wiesn können die Münchner dann plötzlich doch eskalieren. Und vielleicht ist es das, was mich so abschreckt an dem größten Volksfest: Ähnlich wie bei Festivals laufen hier größtenteils Menschen herum, die sich in ihrem sonstigen Leben so arg zusammenreißen (müssen), dass sie in den zwei Wochen Saufen mal so alles rauslassen. Schlafen in der Bieselrinne, Sex auf der Verkehrsinsel, Scheiße an den Wadeln und Kotze am Hemd inklusive.

So wie man auf einem Festival in den crazy Borat-Einteiler schlüpft, um zumindest für ein paar Tage seinem sonst eher langweiligen Leben zu entkommen, tragen viele zur Wiesn Tracht, um geschützt von einer Verkleidung mal vollkommen auszurasten. Vielleicht würde es ja helfen und das Ganze ein bisschen entzerren, wenn die Münchner mal öfter Grund und Möglichkeit hätten zu eskalieren, so aber stehen sie an fünfzig Wochenenden im Jahr brav um sechs Uhr auf, um in die Berge zu fahren und an zweien übernachten sie auf der Fickwiese und sind froh, wenn sie um sechs Uhr morgens noch heim finden.

Zurück zur Startseite