Von Neukölln nach Untergiesing: München, du kannst nicht hässlich sein

© Anna Rupprecht

Spätestens, als unsere Autorin Johanna aus Neukölln mit dem Transporter in die neue Straße in Giesing einbiegt, ist ihr klar: Das hier wird anders. In ihrer Kolumne "Von Neukölln nach Untergiesing" schreibt sie nun jede Woche auf, wie sie München kennenlernt und welche Unterschiede ihr besonders auffallen. Was sie liebt (den V-Markt!), was sie hasst (kein günstiges Schawarma hier!) und warum München manchmal doch gar nicht so anders ist als Berlin.

Wenn Menschen von München nach Berlin ziehen – oder von München nach Köln, oder von München nach Buxtehude – dann drohen sie immer einzugehen wie Ikea-Gummibäume in Ersti-WG’s. Wieso? Ästhetische Unterforderung.

Als Münchner in Berlin hat man keine andere Wahl als ästhetische Kompromisse einzugehen.

Eine Freundin von mir zog vor Kurzem von der Maxvorstadt nach Neukölln. Seitdem versuchen alle ihre Berliner Bekanntschaften, sie mit Ortskenntnis zu beeindrucken. „Das ist eine der schönsten Ecken Berlins!“ sagen sie, präsentieren stolz den Schillerkiez oder Rixdorf und warten selbstsicher auf „Oh’s“ und „Ah’s“. Aber da kommen keine. „Sorry, aber so wie hier sehen die hässlicheren Ecken in München aus“, sagt sie dann immer, fasst sich theatralisch ans Herz und unterdrückt ein kleines Tränchen. Und es stimmt ja auch: Selbst die Museumsinsel oder die prunkvollsten Ecken Charlottenburgs stinken ab gegen den Odeonsplatz, Nymphenburg oder den Hofgarten. Und als Münchner in Berlin hat man keine andere Wahl als ästhetische Kompromisse einzugehen.

Berlin ist nicht schön – aber selten.

Nicht umsonst singt Peter Fox über Berlin „Du bist nicht schön – und das weißt du auch“. Berlin ist tatsächlich nicht schön – aber selten: Die Stadt des zweiten Blicks. Es braucht Zeit und Spucke, um Berlins optischen Reiz zu verstehen – jenseits der absoluten Trostlosigkeit, die einem auf den ersten Blick die Tränen in die Augen treibt. Denn die wahre Schönheit der Perle an der Spree liegt in ihrer Hässlichkeit.

Wenn eine einzelne, halbleere Sternburgflasche einsam mitten auf dem Tempelhofer Feld steht. Wenn ein besoffener Erasmusstudent am Kotti seinen Namen in den Schnee pinkelt. Wenn sich nach der Fuck-Parade ein Einhornluftballon im Baum verheddert. Wenn ein dürrer Typ mit einer Boombox auf einem Lastenrad vorbeifährt und den härtesten Gangsterrap herum dröhnt. Wenn eine fette Ratte in Charlottenburg den Kaviar vom Boden frisst. Man merkt: Ich gerate ins Schwärmen. Das ist die Schönheit Berlins! Sie hat viel mit Chaos zu tun – und man muss sich auf sie einlassen. Manche Menschen schaffen das nicht.

Kein Wunder also, dass der gemeine Münchner in Berlin erst mal die Nase rümpft und ihn ein spontaner Aufräumimpuls überkommt.

München hingegen ist schön – ohne Diskussion. Man kann niemanden ernst nehmen, der behauptet, die Isar wäre hässlich. Niemand geht durch den Englischen Garten und sagt „Boah, sieht’s hier kacke aus“. Man muss niemandem erklären, worin der optische Reiz von München legt: Die Innenstadt ist ein riesiges impressionistisches Gemälde. An diese ständige optische Stimulation kann man sich durchaus gewöhnen. Kein Wunder also, dass der gemeine Münchner in Berlin erst mal die Nase rümpft und ihn ein spontaner Aufräumimpuls überkommt – gefolgt von bitterlichem Heimweh nach Prunkbauten, feinsäuberlich angelegten Blumenbeeten, kitschigen Springbrunnen und glasklarem Isarwasser.

Während sich also meine Münchner Freundin in Neukölln nach ein bisschen indiskutabler Ästhetik verzehrt, geht es mir oft umgekehrt: Ich vermisse die Berliner Anarchie. Und würde mir manchmal wünschen, München wäre nicht so ein Angeber: Immer herausgeputzt, aufgeräumt, charmant und diszipliniert. Nur in manchen, kurzen Momenten fällt die Stadt mal aus der Rolle, verliert kurz die Contenance und wird plötzlich, äh, menschlich. Und dann fühl ich mich ein bisschen zu Hause.

Zurück zur Startseite