An der roten Ampel warten ist nicht spießig, sondern Luxus!
In Bayern gibt es ein Phänomen, das Nicht-Bayern einfach nicht verstehen. Nicht verstehen können, weil sie es vielleicht sogar belächeln. Denn wir in Bayern warten an roten Ampeln. Zu jeder Tages- und Nachtszeit. Einfach immer. Was auf den ersten Blick spießig aussieht, hat bei genauem Hinsehen aber einen viel tiefer gehenden Kern: Gemütlichkeit.
Zugegeben. Bis vor Kurzem gehörte ich selbst noch zu jener obstrusen Spezies, die hinter vorgehaltener Hand kichert, wenn Menschen, trotz einer absoluten Leere an Verkehr, an der roten Ampel warteten. Mehr noch. Manchmal verdrehte ich sogar genervt die Augen. Spießer! Regelgetreue Hinterwäldler! – und ich hetzte ohne einen Blick zurück auf die andere Straßenseite. Bei Rot. Selbstverständlich, denn ich bin ein Großstadtmensch. Ich habe keine Zeit, keine Geduld, und Termine sowieso. Schon mein Papa hat mir als kleines Mädchen beigebracht, nie auf die Ampel zu schauen, sondern lieber zu gucken, ob ein Auto kommt. Und Papa hat doch immer Recht.
Die Zeit an der roten Ampel ist purer Luxus. Sie wird uns geschenkt, einfach so, dürfen wir in unserem arbeitsamen Land ausnahmsweise mal ein bisschen Müßiggang betreiben, und das auch noch ausdrücklich.
Und so rannte ich durch mein Leben, quasi unter Einsatz meines Lebens. Gönnte mir keine Verschnaufpause. Hechtete waghalsig über rote Ampeln, an quietschenden Reifen und schimpfenden Autofahrern vorbei, die Polizei auf den Fersen, und immer auf dem schnellsten Weg zum Ziel. Es soll ja sogar schon Menschen gegeben haben, die ihren Führerschein zwischenzeitlich abgeben mussten, weil sie über Rot gingen. Die von einer 130 Dezibel Fünfton-Sirene und einer knarrenden Stimme aus einem Gigaphon verfolgt wurden: "Bleiben Sie stehen! Sie sind unerlaubt über die rote Ampel gegangen!" – und Unsummen an Strafe zahlen mussten.
Mir ist das alles jetzt zu stressig. Ich mache das nicht mehr. Denn München hat mich etwas Essentielles gelehrt: Das Warten an der roten Ampel ist echte Gelassenheit. Es birgt eine diebische, aberwitzige Freude, vor allem im Fall, dass kein Auto kommt, trotzdem zu warten. Diese Sinnlosigkeit auszukosten. Wie dumm ich doch war, wie blauäugig! Die Zeit an der roten Ampel ist purer Luxus. Sie wird uns geschenkt, einfach so, dürfen wir in unserem arbeitsamen Land ausnahmsweise mal ein bisschen Müßiggang betreiben, und das auch noch ausdrücklich. Es ist gesetzestreu. Und so richtig.
Es wundert mich überhaupt nicht, dass diese Eigenart so "typisch bayerisch" sein soll. Denn Bayern ist ja bekanntlich die Hochburg der Gemütlichkeit.
Denn das Warten an der roten Ampel, das ist mir jetzt klar geworden, ist so gar kein Ausdruck von Spießigkeit. Es ist auch nicht die Angst vor der Polizei. Es ist die pure Gemütlichkeit. Die Wurschtigkeit. Mein Leben auf's Spiel setzen für ein paar Minütchen? Nix da. Ich warte. Ich schaue. Nehme gravierende Verspätungen in Kauf, regeneriere und entspanne. Meditation unterwegs ist doch jetzt der neue Hype. Und mal ehrlich: Es wundert mich überhaupt nicht, dass diese Eigenart so "typisch bayerisch" sein soll. Denn Bayern ist ja bekanntlich die Hochburg der Gemütlichkeit.