Von Neukölln nach Untergiesing: Die bundesweite Boazn
Spätestens, als unsere Autorin Johanna aus Neukölln mit dem Transporter in die neue Straße in Giesing einbiegt, ist ihr klar: Das hier wird anders. In ihrer Kolumne "Von Neukölln nach Untergiesing" schreibt sie nun jede Woche auf, wie sie München kennenlernt und welche Unterschiede ihr besonders auffallen. Was sie liebt (den V-Markt!), was sie hasst (kein günstiges Schawarma hier!) und warum München manchmal doch gar nicht so anders ist als Berlin.
Ich liebe ranzige Kneipen. In Berlin heißen sie Eckkneipe, in München Boazn. Abgesehen vom Dialekt, der gesprochen wird, den Fußballflaggen, die in den Ecken hängen, und dem Bier, das aus dem Zapfhahn kommt, unterscheiden sie sich eigentlich bundesweit nicht. Überall wurde seit circa 1994 nicht mehr durchgewischt, die Wände sind mit vergilbten Fotos der Stammgäste tapeziert und im Hintergrund läuft irgendein Lokalradiosender, der alle 30 Minuten ein Lied von Tina Turner spielt. Die Frau hinter der Bar hat eine Dauerwelle und die Ruhe weg. Vermutlich heißt sie Uschi.
Abgesehen vom Dialekt, der gesprochen wird, den Fußballflaggen, die in den Ecken hängen, und dem Bier, das aus dem Zapfhahn kommt, unterscheiden sie sich eigentlich bundesweit nicht.
Eines Winterabends saß mit einer meiner besten Freundinnen an der Theke eines Vorzeigeexpemplars dieser Sorte Kneipe. Das Lokalradio spielte „Forever Young“. Und der Kneipensog tat seinen Job.
Beim zweiten Bier kam ein Typ um die 50 an die Bar, ausgestattet mit einem umwerfenden Dialekt, und fing an, sich mit uns zu unterhalten. Ich weiß nicht mehr, worüber eigentlich, aber es handelte sich um eines dieser klassischen Suffgespräche, in denen man eigentlich keine Informationen austauscht, sondern sich nur Phrasen um die Ohren klatscht. Es war herrlich. Wer die Kneipengepflogenheiten verstanden hat, weiß: Schlechte Laune ist ein geheimer Code für gute Laune. Noch eine Parallele zwischen Berlin und München. Eine halbe Stunde später saßen wir mit ihm am Stammtisch.
Schlechte Laune ist ein geheimer Code für gute Laune. Noch eine Parallele zwischen Berlin und München.
Den Rest des Abends war ich damit beschäftigt, von der Randomness der Menschen an diesem Tisch beeindruckt zu sein. Uns gegenüber saß ein Typ, den wir vorher als geeigneten Bachelor-Kandidaten auserkoren hatten. „Aber so ein bodenständiger Bachelor – so einer, der die Kandidatinnen mit zu Mutti nimmt und beim Einzeldate stolz Spaghetti Bolognese kocht“. Daneben ein glatzköpfiger Typ, bei dessen Lache die Bude bebte, in einem auf seinem von Bier gestählten Körper etwas zu straff sitzenden Bayern-München-Trikot. Daneben wir, irgendein bärtiger Typ, der den ganzen Abend kein Wort sagte und immer nur kicherte, und unser neuer Kumpel von der Bar. Alle kannten sich seit maximal zwei Stunden.
Nach dem dritten Frangelico, den die Barfrau uns ungefragt nachschenkte, wurde ich übermutig und fing an, über Fußball zu reden. Es stellte sich schnell heraus, dass der Glatzkopf das Bayerntrikot nicht grundlos trug. Es gibt nicht viele Argumente, weswegen man Bayern-Fan werden sollte, aber er kannte sie alle – und seine Augen glitzerten, als er sie uns vortrug. „Nee, ich kann kein FC-Bayern-Fan werden. Ich wohn’ in Giesing!“, sagte ich. Das war das Triggerwort für den Bachelor, der sich als 1860-Fan entpuppte und dessen Liebe für die Löwen kurz so kraftvoll durch seinen Körper zuckte, dass er sich vor lauter Aufregung seinen halben Liter in den Schritt kippte. Fünf Minuten später saß er in Boxershorts am Tisch – Uschi hatte seine Hose hinter der Theke zum Trocknen aufgehängt. Wir waren nun bei Frangelico Nummer Vier und Bier Nummer Fünf und ich ganz beflügelt von diesem legendären Abend.
Wie ihr seht, gibt es einige Dinge, die sogar Berlin und München gemeinsam haben: emotionale Fußballfans, die Wirkung von Frangelico oder diese Nächte.
Schließlich verabschiedeten wir uns von unseren neuen Freunden und betraten – Plot-Twist – die Weserstraße in Neukölln. Aufmerksame Leser sind vielleicht stutzig geworden, als da tatsächlich ein 1860er-Fan mit einem glühenden Bayern-Fanatiker an einem Tisch saß. Dieses Szenario spielte sich in Berlin ab – aber wie ihr seht, gibt es einige Dinge, die sogar Berlin und München gemeinsam haben: wie emotionale Fußballfans, die Wirkung von Frangelico oder diese Kreuzberger Nächte, von denen immer alle singen – ganz egal, wo auf dieser Welt sie stattfinden.