Von Neukölln nach Untergiesing: Keine Angst, was zu verpassen!

© Anna Rupprecht

Spätestens, als unsere Autorin Johanna aus Neukölln mit dem Transporter in die neue Straße in Giesing einbiegt, ist ihr klar: Das hier wird anders. In ihrer Kolumne "Von Neukölln nach Untergiesing" schreibt sie nun jede Woche auf, wie sie München kennenlernt und welche Unterschiede ihr besonders auffallen. Was sie liebt (den V-Markt!), was sie hasst (kein günstiges Schawarma hier!) und warum München manchmal doch gar nicht so anders ist als Berlin.

Im Nachhinein ist es einfach, Berlin zu glorifizieren. Die Wahrheit ist: Einige Dinge an der Hauptstadt habe ich mit Inbrunst gehasst. Ganz oben auf der Liste stand die Unentspanntheit, die beinahe jeden automatisch befällt, wenn es darum geht, bloß nichts zu verpassen.

Was in Berlin die ersten paar Jahre Spaß machte, entwickelte sich schnell zu einer ausgeprägten FOMO-Infektion: Fear of missing out.

Klar, kommt man mit Anfang zwanzig aus dem Urwald nach Berlin, dann ist die Stadt wie ein gigantischer Rummelplatz, nur mit billigem Bier statt Zuckerwatte, Döner statt Bratwurst und Techno-Clubs statt Achter- oder Geisterbahn (je nach Uhrzeit). Logisch, dass man erst mal nicht genug bekommen kann. Was allerdings die ersten paar Jahre Spaß machte, entwickelte sich schnell zu einer ausgeprägten FOMO-Infektion: Fear of missing out.

Weil in Berlin immer irgendwas Aufregendes oder Interessantes oder Wichtiges passiert, das man auf keinen Fall verpassen sollte, ist es manchmal schwierig, sich ohne schlechtes Gewissen Netflix hinzugeben oder einfach mal vor zwei Uhr nachts nach Hause zu gehen. Mir persönlich ging das schon immer gegen die Natur, aber man gewöhnt sich an alles – und so arrangierte ich mich so sehr mit dem Erlebnisdruck, dass er mir irgendwann gar nicht mehr auffiel. Bis ich nach München zog.

Denn wie ich feststellen konnte, herrscht in München viel weniger Angst davor, etwas zu verpassen.

Ich war hochgradig verwirrt. Ich war es aus Berlin gewohnt, diejenige zu sein, die als Erste schlapp macht, die sich am schwersten von ihrem Bett trennen kann und die den Rekord im Haus-nicht-verlassen hielt. In München saß ich plötzlich um halb eins in einer Bar und hörte mich ungläubig selbst sagen „Wie, ihr wollt jetzt schon gehen?“. Wer ist die Frau im Spiegel? Wann war ich dieses Party-Animal geworden, das noch bleiben will, wenn alle gehen? Die Antwort lautet: Es liegt an München, nicht an mir.

Denn wie ich feststellen konnte, herrscht in München viel weniger Angst davor, etwas zu verpassen. Das mag einerseits daran liegen, dass die Auswahl der Events sehr viel kleiner ist und dass man sich meist im Turnus an denselben fünf Orten aufhält – man weiß schon vorher ungefähr, wie der Abend ablaufen wird und durchzechte Nächte kommen eher unverhofft. Man geht hier nicht mit der Erwartung vor die Tür, heute auf jeden Fall die Nacht seines Lebens zu haben. Diese Erwartung passt besser nach Berlin – auch, wenn sie dort erfahrungsgemäß genauso selten wirklich eintrifft.

'Früher schlafen gehen': Das bedeutet für mich halb eins – aber nein, in München heißt das neun Uhr.

Andererseits hat es sicher auch damit zu tun, dass im teuren München einfach ein anderer Arbeitsethos in der Luft liegt: Wer feiern kann, der kann auch arbeiten! Oder eben nicht: Deswegen werden lieber frühzeitig die Bürgersteige hochgeklappt.

Und ich bin wie so oft hin- und hergerissen: Einerseits ist es unglaublich entspannt, nicht mehr ständig unterbewusst zu denken, dass man gerade sein Leben verpasst, wenn man mal zu Hause bleibt. Andererseits weiß ich manchmal nicht, wohin mit meinem Tatendrang – wenn ich verzweifelt versuche, meine Freunde zu mobilisieren, die aber Bock haben, heute „mal ein bisschen früher schlafen zu gehen“. „Früher schlafen gehen“: Das bedeutet für mich halb eins – aber nein, in München heißt das neun Uhr abends. Denn hier ticken die Uhren irgendwie anders – und ich, ich bin jetzt irgendwie nicht mehr langweilig.

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