Von Neukölln nach Untergiesing: Oh, du schöner Hauptbahnhof
Spätestens, als unsere Autorin Johanna aus Neukölln mit dem Transporter in die neue Straße in Giesing einbiegt, ist ihr klar: Das hier wird anders. In ihrer Kolumne "Von Neukölln nach Untergiesing" schreibt sie nun jede Woche auf, wie sie München kennenlernt und welche Unterschiede ihr besonders auffallen. Was sie liebt (den V-Markt!), was sie hasst (kein günstiges Schawarma hier!) und warum München manchmal doch gar nicht so anders ist als Berlin.
Es gibt (mindestens) eine Sache, die München definitiv besser kann als Berlin: Hauptbahnhöfe. Zwar ist der Münchner Hauptbahnhof architektonisch nicht gerade eine Schönheit, aber dafür ist er nicht – wie das Berliner Pendant – seelisch tot. Um den Berliner Hauptbahnhof herum findet sich außer einer endlosen Betonwüste, ein paar nichtssagenden Hochhäusern und dem hässlichsten Spreeabschnitt, den die Stadt zu bieten hat, erst mal wenig. Nach menschlichem Leben sucht man hier vergebens. In München sieht das anders aus: Denn wenn es einen Ort in der bayerischen Hauptstadt gibt, an dem das pure Leben tobt, dann ist es die Gegend um den Hauptbahnhof.
In Neukölln hab ich gelernt, die Schönheit im Chaos zu erkennen.
In Neukölln hab ich gelernt, die Schönheit im Chaos zu erkennen: Zerpflückte Rosenblätter auf dem Gehweg, ein im Baum verhedderter Luftballon, zwei Tauben streiten sich um ein Stück Dönerfleisch, an der Straßenecke stoßen zwei Fremde mit Dosenbier an. Wer darin keine Schönheit erkennen kann, dem verschreibe ich ein paar Jahre Anarchie-Training an der Sonnenallee. Vielleicht hab ich auch ein bisschen zu lange in Neukölln verbracht, denn inzwischen geht mir beim Anblick von dieser Art von Chaos ähnlich weit das Herz auf, wie wenn ich ein Alpenpanorama sehe.
Dementsprechend glücklich war ich, als ich zum ersten Mal begriff, dass München ein kleines Pendant zu Neukölln besitzt: Die Gegend um den Hauptbahnhof. Und ich bin jedes Mal aufs Neue beeindruckt, wenn ich diese Straßen entlang spaziere: Alle Irren der Stadt scheinen sich exklusiv an diesem Ort aufzuhalten. Man erkennt die Stadt kaum wieder. Prunkbauten? Prezise angelegte Blumenbeete? Idyllische Biergärten? Springbrunnen und Grünanlagen? Sucht man hier alles vergebens.
Man kommt keine hundert Meter auf der Bayerstraße voran, ohne Zeuge von irgendetwas Absurdem zu werden.
Die Gegend ist ein Chaosmagnet – sie scheint jeden magisch anzuziehen, der sich im Rest der Stadt irgendwie ein bisschen fehl am Platz fühlt. Man kommt keine hundert Meter auf der Bayerstraße voran, ohne Zeuge von irgendetwas Absurdem zu werden: Ob es nun ein Chihuahua im Pikachu-Kostüm (wirklich schon gesehen) oder die Hotpants-Zwillinge sind, die wieder pöbelnd durch die Straßen marschieren (auch schon gesehen).
Überall finden sich dubiose Läden, deren Funktion einem nicht ganz klar ist. Lautstarke Kids, die alle gleich aussehen, cornern vor U-Bahn-Eingängen. Jemand hört über Handylautsprecher Blümchen. Eine Frau trägt einen Stapel mit sieben Packungen Klopapier die Straße entlang. Jede Person spricht eine andere Sprache. Die Beispiele sind endlos – das Chaos ist perfekt. Der Hauptbahnhof hat in Bayern einen beschissenen Ruf, aber ich finde, dass er einer der authentischsten Orte Münchens ist: Denn letztlich bilden Orte wie dieser das realistischste Bild der Vielfalt ab, die so eine Großstadt zu bieten hat. Der Hauptbahnhof ist München ohne Make-Up. Und ich finde, München kann’s tragen.