Chill mal: Ein Plädoyer gegen den Optimierungswahn
Paul F. ist heute 8,63473 Kilometer in 46 Minuten 27 Sekunden und 4 Hundertstel gelaufen. Schön Paul. Gefällt 37 Leuten. Zwei finden es sogar „Wow“. Ist auch ein ganz guter Schnitt. 748 Kalorien hat er verbrannt. Seine durchschnittliche Herzfrequenz: 154 Schläge pro Minute. 10869 Schritte. Ich bin heute drei Mal vom Bett zum Kühlschrank und zurück gelaufen. Naja, eher geschlurft. Mit Zwischenstopp im Bad, aber das liegt Gott sei Dank auf dem Weg. Keine Ahnung, wie viele Schritte das waren, keine Ahnung, ob das irgendwem gefällt.
Es gibt Apps, mit denen kann man nicht nur seine sportliche Leistung verfolgen, sondern auch Schlaf, Hirnleistung und sogar Gefühle messen. Das Schlimme: Es gibt diese Apps nicht nur, sie werden auch benutzt. Sich selbst und seine Leistung bis ins kleinste Detail zu quantifizieren, scheint angesagt zu sein. Lange Zeit gab es ziemlich genau drei Personengruppen, die ihre physischen und psychischen Werte so genau überwachen ließen bzw. überwachen lassen mussten. Leistungssportler, Astronauten und Todkranke. Für die einen war es ihr Job, für die anderen überlebensnotwendig.
Da steh' ich nun ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor.
Doch was bedeutet es für Paul F., wenn er alles, was er tut, in Zahlen überführt, sich selbst überwacht? Gary Wolf, Gründer der „Quantified Self“-Bewegung (ja, die gibt es tatsächlich) sieht in dieser Vermessung des Menschen eine Art Spiegel, der hilft, sich selbst zu reflektieren, zu erkennen und zu verbessern. Klingt verlockend dieses Besserwerden. Geben wir die Verantwortung also einfach ab, an eine App, eine Firma, eine Pulsuhr.
Ich will auch mal schlecht sein dürfen. Ich möchte mich nicht ständig mit mir selbst und schon gar nicht mit anderen messen.
Wir füttern sie mit Informationen über unseren Schlafrythmus, Körpertemperatur und Stuhlgang und was kriegen wir dafür? Die angebliche Selbsterkenntnis 2.0 in Form von Diagrammen und Graphen, die wir dann auf Facebook posten. Yay. Wir glauben, wir erfahren dadurch etwas über uns, doch in unserem Wahn zwischen Selbstfindung, Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung verlieren wir dabei das Wichtigste aus den Augen: uns selbst.
Messen = Stressen
Vermutlich hat nicht jeder Nutzer von Runtastic auch gleichzeitig vor, sich durch diese Selbstvermessung ins Nirvana seines Ichs zu befördern, aber ich – und das wird man wohl noch sagen dürfen – finde es tatsächlich komplett unnötig. Ich will auch mal schlecht sein dürfen. Ich möchte mich nicht ständig mit mir selbst und schon gar nicht mit anderen messen. Diese ultimative Vergleichbarkeit bedeutet nämlich nur eines: Stress. Pfuiteufel.
Etwas über sich erfahren, indem man aufmerksam in sich selbst hineinhorcht und nicht versucht, sein Innerstes auf einem Display zu entdecken.
Das heißt nicht, dass ich keinen Sport mache, dass ich keine Hobbys habe, außer gegen Selbstoptimierung zu hetzen. Es gibt da nur einen großen Unterschied: Dinge tun, um sie zu tun oder Dinge tun, um einen Zweck außerhalb der eigentlichen Handlung zu verfolgen. Konkret: Laufen gehen, weil einem das Laufen Freude bereitet oder Laufen gehen, damit Paul F. seine 748 verbrannten Kalorien mit Menschen teilen kann, die das nicht interessiert. Außer er geht mit dreizehn Katzenbabys im Arm laufen.
Keep it real
Wie wär's also mal mit Leerlauf für Hirn und Herz? Abstöpseln und Cache leeren. Sich treiben lassen, ohne Grund, ohne Druck, ohne Zwang. Dafür mit umso mehr Freude und Leichtigkeit und vor allem mehr mit und für sich selbst. Etwas über sich erfahren, indem man aufmerksam in sich selbst hineinhorcht und nicht versucht, sein Innerstes auf einem Display zu entdecken.
Es ist nicht einfach, sich von seinen digitalen Unterstützern loszusagen. Es kann geradezu beängstigend sein, sich mal wieder so richtig mit sich selbst zu befassen. Sich selbst tatsächlich wahrzunehmen und nicht als digitales Abbild, als abstraktes Zahlenkonstrukt, als schöngefiltertes Selfie. Da kommen Dinge ans Licht, die darf man gar nicht laut aussprechen.
Trotzdem sollten wir uns trauen, denn leider vergessen wir vor lauter Optimierungssucht gerne, wie schön es sein kann, komplett ziellos unterwegs zu sein. Ohne Plan, ohne Ahnung. Vom Bett zum Kühlschrank und unterwegs vergessen, warum man eigentlich aufgestanden ist. Getreu dem altbekannten Sprichwort: „Das Ziel ist weg“.