Ich liebe die Wiesn, ich hasse die Wiesn
Jedes Jahr das gleiche Spiel – sobald die ersten Lebkuchen im Supermarkt-Regal stehen und das erste Mal Last Christmas im Radio läuft, dann wisst ihr: Es ist noch lange nicht Weihnachten, dafür aber Oktoberfest
München teilt sich in die Lager „Oh nein, da bringen mich keine zehn Brauereipferde hin“ und „Geil! Wiesn! Saufen! Kotzen!“.
Schon eine Weile vorm Anstich legt sich eine knisternde Spannung über die Stadt, die sich simultan zum ersten Bier, das aus den Fässern sprudelt, entlädt. Spannung hat ja immer – Achtung (brand-)gefährliches Halbwissen – etwas mit positiver und negativer Ladung zu tun und genauso fühlt es sich an.
Denn München teilt sich in die Lager „Oh nein, da bringen mich keine zehn Brauereipferde hin“ und „Geil! Wiesn! Saufen! Kotzen!“. Die einen schwimmen also mit dem Strom, die anderen dagegen. Ich für meinen Teil steh’ im Wald und finde den Fluss nicht, denn: Ich liebe die Wiesn, ich hasse die Wiesn.
Alles beginnt am ersten Wiesntag, abends in der U-Bahn. Aus den verschiedensten Gründen, die nichts mit dem Oktoberfest, aber dennoch mit Bier zu tun haben, werden meine Augen von rosa-grün-türkis-lila karierten Mini-Dirndln mit passender Schürze in der jeweiligen Komplementärfarbe penetriert. Den ganzen Tag nichts als graues Regenwetter vor meinem Fenster gesehen, tun mir jetzt die Augen weh. Zudem müssen meine Ohren das letzte Echo der Oktoberfest-Songs ertragen und ich bereue es auch, kein Wiesnglupperl für meine Nase dabei zu haben. Ich hasse die Wiesn.
Meine Augen werden von rosa-grün-türkis-lila karierten Mini-Dirndln mit passender Schürze in der jeweiligen Komplementärfarbe penetriert.
Den nächsten Tag beginne ich mit dem Geräusch eines Reißverschlusses – da sind auch Engelschöre, aber die höre nur ich. Der Reißverschluss gehört zu einem Kleidersack, in dem mein Dirndl hängt. Während sowohl der Inhalt als auch die „Ordnung“ in meinem Kleiderschrank definitiv das Prädikat „wahllos“ verdienen, hängt mein Dirndl tatsächlich in einem richtigen Kleidersack. Ich habe es aber auch mit einem „Das habe ich jetzt erst mal zehn Jahre“-Gedanken gekauft. Umso mehr freue ich mich, dass es sitzt und ich endlich Anlass habe, es zu tragen. Ich liebe die Wiesn.
Freundlich werden wir von Fremden eingeladen uns dazu zu setzen und haben schneller eine frische, kühle Maß, als wir schauen können.
Mittlerweile ist es Sonntagnachmittag. In der U-Bahn ist es eng und eine Gruppe Mädels, deren Dialekt eindeutig außerhalb des Münchner Speckgürtels anzusiedeln ist, die aber vermutlich auf Volksfesten groß geworden oder eventuell auch gezeugt worden sind, gackern hysterisch durcheinander. Großstädtisch kann ich da nur die Augen verdrehen und tief seufzen. Beim Weg die Rolltreppe hoch, kann ich nicht glauben, dass es heuer weit weniger Besucher sind als sonst – es fühlt sich an, als wären alle Menschen der Welt hier. Oben dann der Zaun und die Taschenkontrolle. Ich bin empört. Ich hasse die Wiesn.
Das erste, was ich sehe, ist einer meiner Lieblingsstände – der Flohzirkus. Weiter die Straße runter riecht es nun nach echten, frischen gebrannten Mandeln, daneben quieken kleine Jungs und Mädchen in Miniatur-Trachten vergnügt im Fahrgeschäft. Wir gehen ins Hacker-Zelt, einmal durch und zielstrebig die Treppe zum Balkon hinauf. Freundlich werden wir von Fremden eingeladen uns dazu zu setzen und haben schneller eine frische, kühle Maß vor uns, als wir schauen können. Ich liebe die Wiesn.
Ich kann nicht differenzieren, warum mir schlecht wird – ist es der Alkohol oder das Pärchen mir gegenüber, das sich das Gesicht abschleckt, wie Ziegen einen Salzkristall?
Später wandern wir nach unten in die wilde Menge. Die Menschen verschmelzen – dank des Biers, das sowohl sie als auch ich mittlerweile intus haben – zu einem fleischfarbenen Brei mit neonbunten Sprenkeln. Die Kapelle feuert einen deppensicheren Hit nach dem anderen raus. Ich kann nicht genau differenzieren, warum mir schlecht wird – ist es der Alkohol, das Pärchen mir gegenüber, das sich gierig das Gesicht abschleckt, wie Ziegen einen Salzkristall oder die Tatsache, dass mein Wiesnbudget schon an Tag 1 am Ende ist? Was immer es ist. Ich hasse die Wiesn.
Irgendwann ist mir alles wurscht. Das Hendl war bestimmt nicht glücklich, dafür teuer. Ich schäme mich nicht mehr dafür, Helene Fischer in Sachen Textsicherheit und Tanz-Skills das Wasser reichen zu können. Im Gegenteil: Ich genieße es, so richtig drauf los zu grölen, meine musikalischen Ansprüche an ein Lied auf die Kriterien „irgendeine Melodie“ und „wurscht welcher Text“ herunterzuschrauben und einfach nur dreckig rumzuspinnen. Bei Robbie Williams „Angels“ liegen sich alle in den Armen. Ich liebe die Wiesn.
Beim Kotzen sind sie alle gleich.
Auf dem Heimweg widert mich der Anblick der sich übergebenden Menschen an. Wie sie schon längst nicht mehr Herr oder Frau ihrer Sinne sind und auch den letzten Rest Würde auf die Straße speien. Ich hasse die Wiesn.
Ich schaue genauer hin. Da liegt das handbestickte 700 Euro Designer-Dirndl neben der australischen Plastik-Lederhose, denn: Beim Kotzen sind sie alle gleich. Hach, ich liebe die Wiesn.