Kann ich bitte sofort nach Obergiesing ziehen?
In Print-Zeitschriften gehört es dazu, dass der Herausgeber auf der ersten Seite die Stimmung, Meinung oder Richtung der jeweiligen Ausgabe einfängt. Warum gibt es das auch nicht online?, haben wir uns gefragt. Denn genauso schwirren jede Woche Gefühle, Stimmungen und Meinungen durch München, die wir zwar mitbekommen, aber nirgends festhalten. In dieser Kolumne ist Platz, um all meine Gedanken zu München und dem, was mir in der Stadt begegnet ist, zu sammeln. In dieser Folge: Schockverliebt ins Nachbarviertel.
Am Samstag war endlich wieder Hofflohmarkt in Obergiesing. Nachdem ich letztes Jahr schon ganz verzaubert war und hier wahrscheinlich einen der schönsten Herbstnachmittage überhaupt hatte, war der Termin natürlich ein Hingeh-Muss. Und ich wurde auch dieses Mal nicht enttäuscht – ganz im Gegenteil, Obergiesing hat mich noch mehr fasziniert und gepackt. Wenn das denn überhaupt möglich war. Denn hier gibt es nicht nur einen Zusammenhalt, wie man ihn sonst wohl nur im Dorf erlebt, das Viertel ist dermaßen bunt, laut und wild, dass man kurzzeitig gerne mal vergessen kann, dass man gerade überhaupt noch in München ist.
Das fehlt mir ja in einigen Vierteln in München – dass man einfach nur mal sein kann.
So verkauft eine Frau libanesische Gerichte aus ihrem Küchenfenster. Ihre kleine Essensausgabe nennt sie Cantina Negra Illegal. Der ganze Innenhof riecht nach Kirchenerbsen, Zitrone, Gewürzen. In einer Garage spielt eine Band, man sieht vor lauter bunten Wimpelketten den blauen Himmel kaum noch. Überall lernen sich Menschen kennen und die die sich seit Jahren kennen, reden und lachen so laut, dass man sich am liebsten dazusetzen möchte.
Obergiesing ist nicht perfekt, will es aber auch gar nicht sein. Viele Häuser sind seit Jahrzehnten nicht renoviert, die Bewohner scheint das nicht zu stören – sie hängen Kleiderbügel an die Hauswände, eine Punkband spielt in der Oberen Grasstraße. Wir sitzen auf dem Bordstein, essen wahnsinnig leckere, selbst gemachte Zimtschnecken von einer Flohmarkt-Verkäuferin, trinken Kaffee und sind einfach nur mal. Das fehlt mir ja in einigen Vierteln in München – dass man einfach nur mal sein kann. Auch, wenn man gerade im Schlafanzug auf den Hofflohmarkt gestolpert ist. Das ist vielleicht auch einer der Gründe, warum ich die Maxvorstadt nicht so mag. Ich bin irgendwie immer unentspannt, wenn ich dort bin – und kann gar nicht genau sagen, warum eigentlich.
Auch Obergiesing wird sich verändern und verändert sich gerade, aber es dauert alles ein bisschen länger. Wie das eben so ist in einem Dorf.
In Obergiesing ist das anders. Und auch, wenn hier sicherlich einige, geldige Menschen wohnen (was kostet wohl so ein Häuschen in der Unteren Grasstraße?), spürt man das hier nicht so sehr. Ich stehe plötzlich in dem Garten, vor mir eines der schönsten Häuser, das ich je gesehen habe – mit Wintergarten und riesigem Balkon, mit Kamin und skandinavischen Designmöbeln. Hier Homeoffice zu machen, würde sich anfühlen wie Urlaub. Und der Besitzer spendet alle Erlöse von seinem Verkauf an eine eine äthiopische Hilfsorganisation.
Ein paar Meter weiter stehen und fotografieren immer noch Leute an der Baustelle des denkmalgeschützen Hauses, das kürzlich einfach so abgerissen wurde. Wie Obergiesing damit umgeht? Genau so, wie man es erwarten würde: Jeden Freitagabend findet eine Mahnwache statt, überall im Viertel verteilt hängen Todesanzeigen, die um den illegalen Abriss trauern. Denn diese Seite gibt es hier natürlich auch: Die gentrifizierte, die geldgierige. Dort, wo früher das süße Kaffee Sonnenschein war, hat zum Beispiel ein veganes Deli aufgemacht mit drei verschiedenen Typos im Logo. Auch Obergiesing wird sich verändern und verändert sich gerade, aber es dauert alles ein bisschen länger. Wie das eben so ist in einem Dorf.