"Im Auge des Betrachters": Die Christoph Niemann-Ausstellung im Literaturhaus

Ich gebe es zu. Ich habe mich ein bisschen verliebt. Es ist im Literaturhaus passiert und kam für mich völlig unvorbereitet im Rahmen einer Ausstellung. Und in Gestalt von Christoph Niemann. Aber um es gleich klarzustellen: Meine frühlingshaften Wintergefühle beziehen sich nicht direkt auf den Berliner Künstler, der höchstpersönlich durch seine Ausstellung führte (natürlich ist Christoph Niemann auch toll, schließlich kreiert er diese wunderbaren Werke). Es sind vielmehr die zauberhaften Gedanken, Emotionen und seine Ehrlichkeit und Selbstzweifel, mit denen er seine Arbeit (und vielleicht auch sich) erklärte.

Ab sofort ist dieser Artikel nicht mehr objektiv, aber das ist ja auch nicht im Sinne des Betrachtens. Denn das ist eine Tätigkeit, bei der automatisch die eigenen Erlebnisse, Erfahrungen und Assoziationen angekurbelt werden – und etwas Fantastisches freigesetzt wird: die Fantasie!

"Im Auge des Betrachters": Die Christoph Niemann-Ausstellung im Literaturhaus
© Catherina Hess
"Im Auge des Betrachters": Die Christoph Niemann-Ausstellung im Literaturhaus
© Catherina Hess

Von Zeitungs-Covern bis Alltags-Animationen

Die Ausstellung beginnt mit einer kleinen Skizze, die jede Menge über den 47-jährigen Visual-Storyteller, der lange in New York gelebt hat, aussagt: „The Abstract-O-Meter“ ist eine Skala mit drei Illustrationen eines roten Herzens mit Pfeil. Auf der linken Seite der Skala ist es zu realistisch mit Adern und Blut, der Pfeil Armors macht es zunichte. Auf der rechten Seite reduziert sich die zu abstrakte Darstellung auf einen roten Kasten, der von einem schwarzen Balken durchbohrt wird. Und in der Mitte ist es genau richtig – das vertraute Symbol, dessen Pfeil sagt „Du hast mich mitten ins Herz getroffen“.

Das Literaturhaus zeigt unterschiedliche Werke Niemanns – von der Auftragsarbeit, zum Beispiel für das Zeit Magazin und den legendären New Yorker, über die Instagram-Serie Sunday-Sketches bis hin zu Filmen und Animationen, die Alltagssituationen wiedergeben.

"Im Auge des Betrachters": Die Christoph Niemann-Ausstellung im Literaturhaus
© Catherina Hess
"Im Auge des Betrachters": Die Christoph Niemann-Ausstellung im Literaturhaus
© Christoph Niemann

Illustrationen als Sprache

Christoph Niemann entschied sich nach dem Studium, nach New York zu gehen – hier hatte er das Gefühl, dass seine Zeichnungen besser verstanden werden. Er ist zwar auch Autor, aber seine Illustrationen und Graphiken sind es, die sprechen. Es bedarf nur weniger Worte, wenn überhaupt, denn seine Werke, so sagt er selbst, sind der Schriftsprache am Nächsten. Näher als der Fotografie. Der Betrachter – und dieses Wort bevorzugt er auch im Vergleich zum Begriff Leser – formt seine eigene Geschichte zum Skizzierten. Die Poesie des gebürtigen Waiblingers ist der Schlüssel zu unseren persönlichen Gedanken.

Der 47-Jährige hat zahlreiche Titelbilder für den The New Yorker entworfen. Eine hohe Kunst unter Zeitdruck, denn das Cover ist wortlos und es gibt keinen Artikel, der sich auf den Titel bezieht. Hinzu kommt, dass die Auswahl des Titels eine Ausschreibung ist. Ein faszinierendes Beispiel ist der The New Yorker vom 28. März 2011 – zu sehen ist auf den ersten Blick ein Kirschbaumstamm mit wenigen Ästen, von denen einige Blüten vom Wind verweht werden. Auf den zweiten Blick, beim Betrachten des Bildes, sieht man, dass die Kirschblüten „nukleare Blumen“ sind, eine Andeutung auf das verheerende Erdbeben und dem darauffolgenden Tsunami in Japan.

"Im Auge des Betrachters": Die Christoph Niemann-Ausstellung im Literaturhaus
© Catherina Hess
Christoph Niemann Im Auge des Betrachters
© Catherina Hess

Humor und ungeschönte Selbsterkenntnis

Obwohl ich mich persönlich peinlich berührt und sehr unschön ertappt fühle (Herr Niemann muss mich sowohl auf einem Flug von New York nach Berlin mit Layover in London, als auch beim Essen einer Tüte Gummibärchen beobachtet haben), sind die Serien „Red Eye“ und „The Gummi Bear Chronicles“ meine Favoriten. So viel Humor, Realität und ungeschönte Selbsterkenntnis sind einfach grandios. Und das liegt nicht im Auge des Betrachters, das ist einfach so.

Wer nach der Ausstellung noch nicht genug von Christoph Niemann hat: Auf Netflix gibt es eine tolle Dokumentation über den Künstler als Teil der ABSTRACT – Reihe. Außerdem war er bereits Gast im Mit Vergnügen-Interview-Podcast "Hotel Matze" und hat dort ein paar wirklich schlaue Sachen gesagt!

Christoph Niemann – Im Auge des Betrachters| verlängert bis 05. Mai 2019 | Literaturhaus München, Galerie (Erdgeschoss) | Salvatorplatz 1, 80333 München | Montag – Freitag: 10.00–19.00 Uhr, Wochenende: 10.00–18.00 Uhr | Eintritt 6 Euro, reduziert 4 Euro | Mehr Infos

 

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