Von Neukölln nach Untergiesing: Gepriesen sei der Münchner Winter

© Anna Rupprecht

Spätestens, als unsere Autorin Johanna aus Neukölln mit dem Transporter in die neue Straße in Giesing einbiegt, ist ihr klar: Das hier wird anders. In ihrer Kolumne "Von Neukölln nach Untergiesing" schreibt sie nun jede Woche auf, wie sie München kennenlernt und welche Unterschiede ihr besonders auffallen. Was sie liebt (den V-Markt!), was sie hasst (kein günstiges Schawarma hier!) und warum München manchmal doch gar nicht so anders ist als Berlin.

In Berlin gibt es jedes Jahr irgendwann zwischen März und Mai einen inoffiziellen Feiertag – der wichtigste im Jahr: Der erste warme Sonnentag, an dem man den kommenden Sommer zum ersten Mal erahnen kann. Es ist ein kollektives Aufatmen in der Stadt zu vernehmen, Fremde liegen sich plötzlich weinend in den Armen und Atheisten machen zehn Kreuze, denn es bedeutet: Wir haben einen weiteren Höllenwinter überlebt! Survival-Day, sozusagen. Und während die Berliner Bevölkerung den restlichen Winter über von einer unerträglichen Massenangepisstheit befallen ist, die ich gerne mit kollektivem Vitamin-D-Mangel begründe, sind an diesem Tag urplötzlich alle verdächtig freundlich und zuvorkommend.

Euphorisch ließ ich meine Vitamin-D-Präparate in Neukölln liegen und stieg alljährlich in freudiger Erwartung auf ein paar echte Sonnenstrahlen in den ICE nach München.

Der Berliner Winter ist hardcore. Das wusste ich von der ersten Sekunde an. Ausgerechnet mein erster war der krasseste, als wollte mich Neukölln auf meine Street-Credibility hin prüfen: Wochenlang minus 20 Grad und kein einziger Sonnenstrahl. Spätestens im Oktober zittert ganz Berlin alljährlich in ängstlicher Ehrfurcht vor den kommenden sechs Monaten, die sich nicht selten anfühlen wie eine viel zu lange Schicht an der Mauer von Westeros. Brace yourselves, Winter is coming!

Als ich noch in Berlin gewohnt habe, war es Tradition, dass ich immer kurz vor Weihnachten meine Freunde in München besuchte. Zwar ist die Qual des Berliner Winters Ende Dezember noch nicht ganz so akut wie beispielsweise Ende Februar, wenn man beim Anblick des grauen Himmels nur noch schreiend zusammenbrechen möchte – aber trotzdem hat sich dieser Bayerntrip immer angefühlt wie ein kleiner Sommerurlaub. Ich bin keine Meteorologin, aber sicherlich gibt es ein paar logische Erklärungen dafür, wieso Berlin im Winter so unfassbar grau und nass und grauenerregend ist, während München im Vergleich die Sonne sprichwörtlich aus dem Arsch scheint. Euphorisch ließ ich meine Vitamin-D-Präparate in Neukölln liegen und stieg alljährlich in freudiger Erwartung auf ein paar echte Sonnenstrahlen in den ICE nach München.

In München ist der Winter eine Jahreszeit, in Berlin eine Mutprobe.

Selten wurde ich enttäuscht – denn während der Berliner Winter sich streckenweise anfühlt wie eine Mount-Everest-Besteigung ohne Sauerstoffflasche, gleicht der Münchner Winter eher einem gemütlichen Spaziergang durch den Englischen Garten. Nun habe ich meinen ersten kompletten bayerischen Winter hinter mir und ich muss sagen: Das hat sich gelohnt.

Sowohl die alljährliche Lebenskrise Mitte Februar als auch die Überlegung, eventuell aus Verzweiflung einen Sonnentanz einzustudieren, blieben aus. Auch die Menschen in München wirken irgendwie ausgeglichener und mit dem Winter im Reinen. In aller Ruhe führen sie ihre Pelzkrägen aus, trinken fröhlich ihre Glühweine und besteigen hier und da mal an den Wochenenden ein paar Berge. Man erwischt sich fast schon dabei, den Winter für eine ungläubige Sekunde lang ganz gut zu finden. In München ist er nämlich eine Jahreszeit, in Berlin eine Mutprobe.

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