"Ich liebe diese Energie im Zelt" – Aus dem Leben einer Wiesnbedienung

© Markus Büttner

Am Abend vorher lagen in der Münchner Badewanne noch Sandkörner vom Atlantik-Strand. Die Neoprenanzüge trocknen gerade über dem Balkon. Die Sonne über München geht auf und im Hintergrund schlägt die Sankt-Pauls-Kirche. Es ist sieben Uhr. Samstag. Anstich. Wiesn. Boom! Vicky Schenkel macht sich für ihr drittes Oktoberfest im Schottenhamel-Festzelt bereit. Get this party started.

Mittelschiff. Vollgas. 16 Tage lang schwarze Strumpfhose statt schwarzem Neo. 16 Tage keinen Sonnenuntergang. Dafür bleibt dann keine Zeit. Zum Sundowner kracht's so richtig im zweitgrößten aller Wiesn-Zelte. Jeden Tag der gleiche Ablauf. Frühes Aufstehen. Ein schneller Smoothie, Kaffee, weiße Schürze, Haare flechten, Schottenhamel-Häubchen, Tee to go und ab auf die Wiesn. Wie hält man das aus? Schon als Gast zehrt die Wiesn ja am Lebensrhythmus aller Münchner. Aber als Bedienung? Puh!

Wenngleich Vicky die Wiesn und die Arbeit hier über alles liebt und riesigen Spaß daran hat, will sie sich mit dem Wahnsinn immer erst so spät wie möglich beschäftigen. Deshalb auch der Surftrip nach Portugal. Nur weg hier. „Wenn ich die Vorfreude, die Anspannung in der Stadt und den Hype schon vorher spüre, würde mich das vermutlich zum Durchdrehen bringen. Ich weiß ja was mich erwartet. Deswegen fahre ich ans Meer und sammle Energie. Deswegen komme ich so spät wie möglich vor der Wiesn heim und dann knallt’s gleich volle Kanne beim Anstich rein.“

Dass sie bei ihrer Arbeit kein schlechtes Geld verdienen, das steht außer Frage. Wieviel, das ist auch für engste Vertraute ein Buch mit sieben Siegeln.

Wiesnbedienungen sind die heiligen Kühe – und Ochsen?! – auf dem Oktoberfest. Sie werden bewundert, verehrt, ja fast vergöttert. Sie sind es, die die heiligen Kelche durch die Reihen schleppen, sind mitverantwortlich ob die Wiesn die Erwartungen erfüllt - und leider auch für den Kater am nächsten Tag. Dass sie bei ihrer Arbeit kein schlechtes Geld verdienen, das steht außer Frage. Wieviel, das ist auch für engste Vertraute ein Buch mit sieben Siegeln. Das Geld ist verdient. Wirklich verdient.

Vicky Wiesn Bedienung Schottenhamel Oktoberfest
© Markus Büttner
Vicky Wiesn Bedienung Schottenhamel Oktoberfest
© Markus Büttner

Was man nämlich oft vergisst: Sie schuften 16 Tage lang von früh bis spät, egal ob Sonn- und Feiertag. Stehen sich aber auch mal die Beine in den Bauch und gönnen sich ihre wohlverdiente Pause. Ein kurzer Kaffee oder ein kurzer Besuch in anderen Zelten ist schon auch mal drin. Fällt ihnen eine Ladung mit zehn Mass Bier runter, kommen sie selbst dafür auf. Blaue Flecken, Muskelkater und viele Schrammen sind ihr täglich Brot.

Ich will eine Verbindung zu meinen Gästen aufbauen und wünsche mir, dass sie eine wunderbare Zeit haben. Ein respektvoller Umgang ist mir wichtig. Aber: Wer pöbelt, zu betrunken ist oder am Tisch einschläft muss gehen.

Alles nur für das Geld? Bei Vicky ist das irgendwie anders. Sie stellt sich ihren Gästen mit Namen und Handschlag vor, gibt auch mal einen Hundert Euro Schein, der am Boden liegt, zurück und bekommt fast täglich von glücklichen Wiesn-Besuchern eine Umarmung und große Dankbarkeit zum Abschied. „Ich will ein Verhältnis und eine Verbindung zu meinen Gästen aufbauen und wünsche mir, dass sie eine wunderbare Zeit haben. Ein respektvoller Umgang ist mir wichtig. Aber: Wer pöbelt, zu betrunken ist oder am Tisch einschläft muss gehen. Ich will Spaß auf der Wiesn haben, und meine anderen Gäste auch. Punkt!“ Das klappte in den letzten Jahren offenbar ganz gut.

Natürlich gibt es auch die dunkle Seite der Wiesn. Diese, auf der die Bedienungen immer wieder von Betrunkenen bedrängt, belästigt und begrapscht werden. Diese, auf der die Bedienung nur als einfache Bierschubse erniedrigt wird. Das darf man nicht beschönigen. „Mir ist tatsächlich, Gott sei Dank, solch eine Erfahrung erspart geblieben. Ich persönlich habe noch nichts dergleichen erlebt."

Vicky Wiesn Bedienung Schottenhamel Oktoberfest
© Markus Büttner
Vicky Wiesn Bedienung Schottenhamel Oktoberfest
© Markus Büttner

Warum tut man sich das an? 16 Tage unangenehme Gerüche, angetrunkene Menschen, Gedränge, Stress, Schlafmangel, Schmerzen. „Ich weiß nicht warum, aber ich liebe diese Energie im Zelt, die kollektive Freude, dieses Aussteigen aus dem Alltag. Das Freisein. Natürlich sollte man schon ein Menschenfreund sein und Bock auf hartes Schuften haben. Aber man weiß ja was einen auf der Wiesn erwartet.“

Vicky ist sicher nicht so, wie man sich vielleicht eine typisch bayerische Wiesnbedienung vorstellt. Sie hat keine Superkräfte in ihren eher schmalen, zierlichen Armen. Sie ernährt sich vorwiegend vegan und macht viel Yoga, surft und genießt es trotzdem, wenn sie die 10er-Massen durch die Gänge schleppt. Unbesiegbarkeitsmodus: On!

Wenn eine von beiden gutes Trinkgeld bekommt, dann teilen das beide. Wenn der Schlitten mit fünf Hendln auf den Boden kracht, ebenso.

Im Zweier-Team mit ihrer Kollegin und Freundin Lea zählt für sie bei der Arbeit vor allem eins: „Absolutes Vertrauen…und natürlich Teamspirit.“ Alles geht in den gleichen Geldbeutel. Alles gemeinsam, nie allein. Wenn eine von beiden gutes Trinkgeld bekommt, dann teilen das beide. Wenn der Schlitten mit fünf Hendln auf den Boden kracht, ebenso. Die Wiesn geht für Vicky vorbei wie im Tunnel. Daily Business: Fehlanzeige. Social Life mit Freunden: Null. Das ist halt so.

Wenn es am Sonntag bei Wunderkerzen das letzte Mal "Servus, Pfüa Gott und Auf Wiedersehen" im Schottenhamel heißt, dann verdrängt Vicky auch wieder für ein Jahr die Wiesn aus ihrem Kopf. Dann kümmert sie sich um ihr normales Leben und räumt auch wieder den Wetsuit auf. Der ist mittlerweile trocken.

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