Ledersitze & Retro-Flair: Ein früher Nachruf auf die alten U-Bahnen
"Kruzifix nochamoi, seid’s ihr deppad? Jetzt geht’s halt von den Türen weg!", scheppert es aus den blechernen Lautsprechern an der U-Bahn-Haltestelle: Täglich grüßt die MVG. München am Morgen kann man entweder hassen oder lieben. Ich liebe es. Das Granteln der U-Bahnfahrer*innen gibt mir immer wieder ein Gefühl von zuhause. Denn ich glaube ja, dass Granteln eigentlich die bayerische Art ist, Herzlichkeit zu zeigen. Als ich jedenfalls an so einem Morgen in den Granteltonus einsteige und mich über das neue Design der Waggons auslasse, schwingt dem ein überraschendes Gefühl von Zuneigung mit.
Denn es geht mir im Grunde genommen nicht um das neue Design. Auch, wenn ich im grellen Neonlicht fühlen kann, wie meine Augenringe sich eingraben. Und auch, wenn ich meinen müden Sitznachbar*innen in jeder Kurve über die ungepolsterte Sitzreihe auf den Schoss rutsche, kann ich einsehen, dass das neue Design immerhin mehr Platz bietet. Mein Grant kommt eigentlich daher, dass mir in diesem neon-getünchten Moment in dem neuen Waggon auffällt, wie sehr ich die alten U-Bahnen mag. Und wie wenig ich bereit bin, sie gegen die blau gepolsterten Raumschiffe einzutauschen. Ich grantel also. Es ist nämlich leicht gegen Neues zu sein, weil es schwerer ist Abschied zu nehmen.
Schmierige Fensterscheiben, abgewetztes Leder und muffiger Geruch – gotta love it.
Retro sind die Waggons des Typ A und B, die seit 1967 und 1981 mit Holzverkleidung an den Wänden, schummrig-schäbigem Licht und Lederbänken ihre Runden ziehen. Ich habe normalerweise keine besonders ausgeprägten Gefühle gegenüber öffentlichen Verkehrsmitteln, aber in diesem in Neonlicht getauchten Moment, hängt für mich ein ganz bestimmtes Stadtgefühl an den alten U-Bahnen.
An ihrem Mief, an dem abgewetzten Leder, am Blick durch schmierige Fensterscheiben. Und an der Kombination aus alten, abgeranzten, gekachelten U-Bahn Stationen und dem unterschwelligen Geruch nach Urin. An diese Ansammlung unschöner Dinge habe ich irgendwann zwischen meinem ersten Tag in München und heute mein Heimatgefühl gehängt und bin wohl ein richtiges Großstadtkind geworden.
Etwas, woran so viel hängt, verdient also einen Nachruf. Gewöhnlich schreibt man den nicht aus einem müden Moment in der U-Bahn heraus, sondern nach dem Ende. Und noch fahren die alten U-Bahnen ja. Aber danach sind Nachrufe – entgegen ihres Namens – eigentlich wie Beerdigungen, bloß verpasste Abschiede, denn sie kommen zu spät. Wie aber nimmt man anständig Abschied? Ich stelle mir vor, dass es so geht: Sich, so lange es währt, nochmal bewusst an allem Schönen zu erfreuen.
Eine unwiderstehliche Klasse – entliehen einer Zeit, die es so wahrscheinlich nie gab.
Was also ist schön an den alten U-Bahnen? Im Grunde genommen, dass sie unzählige Geschichten von Reisen, Räuschen und Knutsch-Sessions erzählen – oder warum auch immer man seinen Kaugummi schnell los werden muss und unter den Sitz klebt. Nicht, dass ihre blau gepolsterten Nachfolger das nicht auch schon tun. Aber anders als die alten Waggons, denn in ihre Patina haben sich die Geschichten regelrecht eingegraben, die Sitzbänke ausgebeult, die Holzverkleidung verschlissen. Waggons des Typ A und B erzählen mit Ledergefühl, das mich an Whisky Gläser und Zigarren erinnert und dem Ganzen für mich eine unwiderstehliche Klasse gibt – entliehen einer Zeit, die es so wahrscheinlich nie gab.
Gefühle zwischen DDR und Wes Anderson
Es soll ja Leute geben, die sich in die DDR zurückversetzt fühlen, wenn sie die braune Holzverkleidung an den Wänden sehen. Ich, als Kind, das noch nicht mal den Mauerfall miterlebt hat, fühle mich in den alten U-Bahnen eher versetzt in einen Zug gewordenen Wes Anderson Film. Das kommt von dem klappernden Geräusch, wenn die U-Bahn Anzeige durchwechselt, nur um dann wieder bei demselben Schild hängen zu bleiben. Das kommt auch vom schmierigen Filter auf dem Blick durch die Fenster mit den runden Ecken. Ganz besonders, wenn man so lange in der U6 sitzen bleibt bis sie an die Oberfläche fährt und sich hinter dem Plexiglas Münchens Peripherie erstreckt, was einen unerwartet schönen Kontrast zum Tunneldunkel gibt.
Auf den Lederbänken zu sitzen und aus dem Fenster zu schauen ist derart gemütlich, dass ich jedes Mal bereue, kein Buch mitgenommen zu haben. Die alten U-Bahnen haben in manchen Momenten, wenn man beinahe allein im Waggon sitzt und lange unterwegs ist, denselben Flair wie Abflughallen oder Busbahnhöfe: Man kann eh nichts anderes tun als warten und das bedeutet im trubeligen Alltag ein überraschendes Maß an Entspannung. Also genieße ich den Blick durch das zerkratzte Plexiglas und stelle mir vor es ist ein Fernglas nach gestern. So lange bis ich genug habe vom U-Bahn fahren und ohne Grant Servus sagen kann.