"Eine WG ist wie guter Wein" – ein Hoch auf das WG-Leben über 30

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Ich werfe die verschimmelte Marmelade weg. Nicht meine. Ich fische die Haare aus dem Sieb in der Dusche. Nicht meine. Ich drücke den letzten Rest Zahnpasta auf der Zahnbürste aus. Definitiv nicht meine. Insgesamt ist schwer zu sagen, was in dieser Wohnung überhaupt mir gehört. Teller, Gabeln, Staubsauger – die meisten Sachen sind einfach da.

Als ich eingezogen bin, habe ich bestimmt ein bisschen was mitgebracht. Aber das ist mittlerweile mehr als neun Jahre her. Heut bin ich 32, den Überblick habe ich verloren. Denn seit meinem Einzug habe ich hier mit mindestens zehn verschiedenen Menschen gelebt – mit den meisten zusammen, mit ein paar aneinander vorbei.

Ich will hier niemals weg

Nun, ein Studium, drei Beziehungen, diverse Nebenjobs, große Reisen und tausend wilde Nächte später, sitze ich immer noch hier. Ans Ausziehen habe ich nie gedacht – ganz im Gegenteil. Denn egal in welcher Konstellation: Diese WG war nie eine Schicksalsgemeinschaft, die aufgrund fehlender finanzieller Mittel auf engem Raum zusammenlebt und sich so mit den Wirren des Münchner Mietmarkts arrangieren muss. Wir alle haben uns das ausgesucht. Wir müssen nicht, wir wollen das so.

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Wir stehen mitten im Leben, haben feste Beziehungen und an unsere Geburtstagsfeiern zum Dreißigsten können wir uns nicht nur aufgrund opulenter Alkoholmengen nicht mehr so gut erinnern. Es ist einfach schon ein paar Jährchen her. Während um uns herum die ersten Freund*innen die gemeinsamen Pärchen-Wohnungen schon wieder aufgeben, dreht sich unsere WG weiter wie ein Perpetuum Mobile. Etwas, das nicht nur den Gesetzen der Thermodynamik widerspricht, sondern wohl auch allen sozialen Gepflogenheiten.

WGs sind wie gute Weine. Je mehr Zeit man ihnen zum Reifen gibt, desto besser werden sie.

Dabei zeigt die Erfahrung doch: WGs sind wie gute Weine. Je mehr Zeit man ihnen zum Reifen gibt, desto besser werden sie. Als ich in die WG zog, kannte ich keine*n der Mitbewohner*innen. Wir waren keine Freund*innen – und so ging es fast allen, die folgten.

Heute sind wir eine Familie. Denn nichts anderes sind diese Menschen, mit denen ich mir nicht nur Klobrille, Kaffeemaschine und Nebenkostenabrechnung, sondern auch mein gesamtes Privatleben teile. Und zwar auf durchschnittlich 25 Quadratmetern pro Person. Wenn ich in meinem Zimmer die Jacke fallen lasse, ist der Boden weg.

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Deswegen lasse ich meine Sachen auch immer wieder in anderen Räumen fallen. Damit müssen die anderen drei zurecht kommen. Genau wie ich mit der verschimmelten Marmelade, dem vollgestopften Wäscheständer oder den tausend Rauchen-in-der-Küche-Ausnahmen. Klingt belastend? Klingt rücksichtslos?

Klingt für mich nach absolut akzeptablen Kompromissen, die man eingeht, wenn man in einer Gemeinschaft lebt. In einer Gemeinschaft aus Menschen, die man gerne hat, die einander wichtig sind und die man problemlos unter lautem Gebrüll aus dem Bad klopfen kann.

Es gibt sehr wohl Rücksicht im Haus

Wer WG hört und Chaos denkt, hat mit Sicherheit nicht unrecht. Wer aber Chaos denkt und Stress fühlt, der kennt die vielen Vorteile des Lebens in einer Wohngemeinschaft nicht. Vor allem, wenn alle über 30 sind, ein festes Einkommen haben und ein Gefüge bilden, das sich bei WG-Gesucht "Berufstätigen-WG“ nennt. Die Realität fühlt sich aber eher an wie "Studi-WG“, nur mit mehr Geld auf dem Konto und längerem Kater. Das ändert allerdings nichts an den Pluspunkten:

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Pfandflaschen werden nicht mehr nur weggebracht, wenn das Konto leer ist. Der Kaffee fließt cremig aus dem Siebträger. Den Feigen-Senf im Kühlschrank kann man ohne Angst vor Streit klauen und irgendwer bringt immer einen Kanister voll feinstem Olivenöl von irgendwo mit. Vielleicht traut man sich auch, das schöne Geschirr in den Schrank zu stellen – und ja, es soll auch Wohngemeinschaften geben, in denen das Problem Putzplan dank einer Reinigungskraft der Vergangenheit angehört.

Soziale Kontakte sind frei Haus

Ganz oben auf meiner persönlichen Pro-Ü30-WG-Liste steht aber definitiv das Sozialleben. Wir alle kennen den Struggle, neben Beziehung, Beruf und Briefmarkensammlung auch noch unsere Freundschaften zu pflegen. Wer in einer WG mit lieben Menschen lebt, bekommt die tägliche Dosis sozialer Kontakte völlig unkompliziert und automatisch serviert.

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Aber klar, natürlich ist nicht alles schön. Bei den Fenstern zieht es rein, die Spülmaschine macht alles außer spülen und ich kann nicht sicher sagen, ob es auch noch Mitbewohner*innen hinter dem Kühlschrank gibt. Von der problematischen Gleichung mit den Variablen "1 Bad“ und "4 Mitbewohner*innen“ will ich gar nicht anfangen.

Da schippere ich lieber Tag für Tag in meinen Hafen mit den vielen Türen, die meistens offen sind, manchmal zu, aber nie komplett abgeschlossen

Ist mir am Ende aber alles lieber als abends in eine einsame Wohnung zu kommen oder noch schlimmer: Mich nicht mit meinem Mitbewohner*innen, sondern mit meinem Partner über das schmutzige Buttermesser auf der Anrichte, die leere Klopapierrolle oder die Stromnachzahlung zu streiten. Da schippere ich lieber weiter Tag für Tag in meinen Hafen mit den vielen Türen, die meistens offen sind, manchmal zu, aber nie abgeschlossen.

P.S.: Das allerallerbeste ist übrigens noch etwas ganz anderes. Man kann seinen Schlüssel so oft zu Hause vergessen, wie man will. In neun Jahren habe ich bestimmt 800 Mal den Schlüssel in der Wohnung liegen lassen. Einen überteuerten Schlüsseldienst musste ich trotzdem noch nie rufen.

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