München ist eine Arbeiterstadt, in der keiner mehr Zeit hat!
In Print-Zeitschriften gehört es dazu, dass der Herausgeber auf der ersten Seite die Stimmung, Meinung oder Richtung der jeweiligen Ausgabe einfängt. Warum gibt es das auch nicht online?, haben wir uns gefragt. Denn genauso schwirren jede Woche Gefühle, Stimmungen und Meinungen durch München, die wir zwar mitbekommen, aber nirgends festhalten. Diese Kolumne ist der Platz, an dem ich all meine Gedanken zu München und dem, was mir diese Woche in der Stadt begegnet ist, sammle. Heute: München ist eine Arbeiterstadt!
Letzte Woche ging ich abends meinen gewohnten Weg vom Büro zur U-Bahn – und hatte plötzlich ein Déjà-vu, aber keines der guten Art, sondern eher für einen Moment keine Ahnung, welcher Tag heute eigentlich war. Alles war austauschbar: Der Weg, die Dunkelheit, selbst die Leute, die man abends am Hauptbahnhof so sieht. Vor der U-Bahn-Treppe blieb ich stehen, die Abendzeitung titelte: "Münchner arbeiten sich krank". Und ich musste innerlich nicken, denn wenn ich mich umguckte – in meiner Familien, bei meinen Freunden, in der U-Bahn – dann fiel mir schon auf, dass alle verdammt viel arbeiten, um irgendwie am Ball zu bleiben.
Mittlerweile glaube ich eher, dass viele (ich eingeschlossen) am Wochenende schlichtweg keine Energie mehr haben, um jetzt großartig Bayern zu erkunden.
Um mithalten zu können bei all den laufenden Kosten, die nicht weniger, sondern eher immer mehr werden. Die Miete steigt, die Fahrkartenpreise, die Reisnudeln werden teurer, der Kaffee ist es längst. Aber auch mitzuhalten bei all den Anderen, mit denen man sich ständig vergleichen kann in München. Denn erfolgreiche, schöne und reiche Menschen hat diese Stadt wirklich genug. Die einem von ihrer sechs-Tage-Woche, ihren zwei Kindern und dem Halbmarathon erzählen. Alles in einem Atemzug. Und dann mit dem Porsche Cayenne davonfahren.
Vor fast einem Jahr schrieb ich mal einen Text über die Illusion des Ausflugs, dass es den Münchnern schon reicht zu wissen, dass sie in die Berge fahren könnten: "Das Münchner Umland ist wie ein Fitnessstudio-Vertrag. Es reicht schon das Gefühl, dass man die Möglichkeit hätte und man fühlt sich besser." Mittlerweile glaube ich eher, dass viele (ich eingeschlossen) am Wochenende schlichtweg keine Energie mehr haben, um jetzt großartig Bayern zu erkunden. Da ist man schon froh, wenn man es mal in die Stadt schafft, um seine Schuhe zum Schuster zu bringen. Da heißt es dann ausschlafen statt rausfahren, rumliegen statt rumwandern.
Seitdem wir arbeiten, sehe ich meine besten Freunde nur noch alle sechs Wochen.
All das erledigen, wozu man die Woche über eben nicht kommt. Genau deshalb ist die Stadt am Samstag ja so voll und sonntags jedes Café so dermaßen überfüllt – weil die Münchner sonst keine Zeit und auch keine Energie mehr haben, etwas zu unternehmen. Unter der Woche setzt man sich nur in sein Auto, den Bus oder auf den Fahrradsattel, fährt von A nach B und das fünf Mal die Woche. Kommt abends heim in seine schöne Wohnung und bestellt bei Deliveroo. Oder macht sich wahlweise in seiner Designer-Küche Flugavocados vom Elisabethmarkt – je nach Alter und Einkommen natürlich. Fest steht aber: Seitdem wir arbeiten, sehe ich meine besten Freunde nur noch alle sechs Wochen.
Vielleicht liegt es daran, dass einem am Ende des Jahres oft die Luft ausgeht, vielleicht liegt es auch daran, dass 2017 irgendwie ein Nicht-Jahr war. Wie mit dem schnellen ICE von Berlin nach München fuhr man im Affentempo durch die vier Jahreszeiten, durch die Wochen, durch die Tage und fragt sich nach fast zwölf Monate nun: Wo ist eigentlich das Jahr hin? Wie oft war ich denn mit meinem besten Freund Bier trinken? Wie oft habe ich meine Oma besucht und die Babys meiner Freunde? Wie oft habe ich die Zeit vergessen und morgens noch viel zu lange auf die Isar geschaut? Und wie oft habe ich auf dem Heimweg plötzlich vergessen, welcher Tag eigentlich ist?