Über Hype und Heiligkeit des Bahnwärter Thiel
Der Bahnwärter Thiel ist vier Jahre alt geworden. Und vier Clubjahre sind in München ja schon ein enormes Alter, in etwa so enorm wie dreißig Menschenjahre. Wie ein frisch gebackener Dreißigjähriger, der seine wilden Zwannies hinter sich hat, besitzt auch der Bahnwärter seit 2017 einen festen Fünfjahresvertrag, einen festen Fünfjahresplan und damit einen sicheren Platz im Schlachthofviertel bis 2022. Er tanzt also ziemlich abgesichert durchs Leben. Ein guter Zeitpunkt um mal darüber nachzudenken, ob der Bahnwärter Thiel wirklich so ein Manifest gegen Münchens Regeltreuheit ist.
Vier Clubjahre sind in München ja in etwa so viel wie dreißig Menschenjahre – also schon ein Alter, das man schrecklich oder schrecklich schön finden kann.
Auf die Gefahr hin, dass mir gleich ein Aufschrei der Bahni-Anhängerschaft entgegenheult, frage ich mich da vor allem warum der Bahnwärter Thiel nach vier Jahren immer noch derart gehypt wird. Wenn ich Leute über den Bahnwärter reden höre, dann klingt immer dieser Funken Ehrfurcht mit. Einem ungläubigen „Das ist ja so Berlin!“ folgt ein „Da müssen wir hin!“ und der Dialog ist stets untermalt von einem tosenden AAAAH wie von tausend Engelschören, wenn sie dem Bahni seinen Heiligenschein aufsetzen. Innerlich krümme ich mich dann ein bisschen bei dem Versuch mir gleichzeitig die Ohren und geblendeten Augen zuzuhalten. Wenn ich in solchen Gesprächen anmerke, dass ich eigentlich keinen Bock habe das ganze Wochenende im Bahnwärter Thiel zu verbringen, folgt auf ein beinahe hysterisches Lachen ob der Absurdität meiner Aussage häufig ein leicht panisches: Aber wieso nicht?
Blendender Heiligenschein und heiteres Hypen
Die Frage lautet für mich eher: Wieso schon? Was ist es, das uns Woche für Woche ins Schlachthofviertel treibt? Denn ja, natürlich war ich auch schon mehr als zwei Mal da. Ich will den Tempel der Tanzbarkeit, der er ja für viele Leute ist, auch gar nicht mit Füßen treten, denn der Bahnwärter ist ja wirklich einer der interessantesten Orte in München.
Immerhin hängt da eine Gondel am Kran, mehrere U-Bahnwagons stehen auf dem Gelände und innen wie außen gilt es spannende Flohmarktfunde und wilde Konstruktionen zu entdecken. Und ja, es gibt viel Raum für Kunst und ein tolles Programm. Sogar ein echt vielfältiges, das meistens kostenlos ist, an dem Omas mit Enkelkindern, Elektrogött*innen, Eltern, Hippies und Hipster gleichermaßen Gefallen finden. Er hat – wie es sich für einen Dreißigjährigen gehört – seine Regelmäßigkeit gefunden. Und über die kann man sich dem Alter entsprechend freuen – ohne jedes Mal die Engelschöre auszupacken.
Leute klammern sich in genussvollen Panikmomenten so fest an den Bahnwärter wie an die letzte Eisscholle im großen, weiten Clubmeer.
Den Bahnwärter gibt es seit vier Jahren und mindestens noch für weitere drei Jahre – was dieses Jahr passiert, passiert nächstes Jahr wieder. Und wenn man ein Wochenende lang nicht dort aufschlägt, verpasst man eigentlich nicht die Welt. FOMO, Verlustangst, der generelle Schmerz über die kurze Halbwertszeit und das ewige Sterben der Subkultur – all diese Gefühle, die uns sonst so zielsicher in Raum Konzepte führen, die irgendwas mit Zwischennutzung und der ganzen Pop-up-Schose zu tun haben – sind also keine berechtigte Ausrede, um Woche für Woche in den Schlachthof zu pilgern. Einfach eine gute Zeit haben zu wollen dafür schon, denn die hat man im Bahnwärter eigentlich immer.
Am Ende ja gar nichts falsch daran, ein Ort für alle zu sein.
Vor allem dann, wenn man sich eingesteht, dass der Bahnwärter im Mainstream angekommen und irgendwie ein Ort zum Feiern mit und für alle geworden ist – also für alle, die Willens und in der Lage sind für Partys den für München (leider) gängigen Clubeintrittspreis von 12 Euro zu zahlen.
Am Ende ist ja gar nichts falsch daran, ein Ort für alle zu sein. Daniel Hahn, der immer wieder dankend von Stadt und Co. als Posterboy der Subkultur verkauft wird, will doch gar nicht Szene sein, sondern einfach nur sein Ding machen. Wenn wir den Bahnwärter also lieben wollen, dann, weil hier P1-Gänger*innen neben Druffis und Eltern, die auf das Ende vom Kasperltheater warten, Prosecco in der Sonne schlürfen. Weil er es geschafft hat, das, was wir für Subkultur halten, in die Mitte der Gesellschaft zu transportieren und für alle zugänglich zu machen.
Einmal Prosecco Schlürfen für alle bitte!
Im Grunde genommen ist der Bahnwärter Thiel deshalb ja schon ein ziemliches Phänomen: Auf einmal ist dieser eine Münchner Club, in dem die Sofas kaputt sind, und sich der ewige Freiheitspathos mit jeder Schicht Sprayfarbe tiefer in die Containerlandschaft gefressen hat, in aller Munde und München nicht mehr dieselbe Stadt. Ehrfürchtig schreiten Woche für Woche Besucher*innen durch die Tore, verlieren sich im Container Chaos und staunen über diese Art Ort, den in München jahrelang alle so verzweifelt gesucht haben und der sich zu der Prä-Bahni-Zeiten (angeblich) nur in Berlin finden ließ. Subkultur gab es in München natürlich schon vor dem Bahnwärter Thiel. Nur seit Daniel Hahn ein Schiff auf eine Brücke gesetzt hat, ist sie halt unübersehbar.
Weil er es geschafft hat, das, was wir für Subkultur halten, in die Mitte der Gesellschaft zu transportieren und für alle zugänglich zu machen.
Das ist, was der Bahnwärter Thiel dann auch nach vier Jahren noch ist: Ein Monument der Veränderung, ein Bekenntnis der Stadt zur Vielseitigkeit. Und wie ein Monument darf man ihn lieben, pflegen, erhalten – aber vor allem darf man ihn endlich Ernst nehmen und darauf klar kommen, dass er fest zum Stadtbild gehört. Dass er einfach München ist. Dass er mit seinen Preisen, seinem Mainstream, seinen festen Plänen und seinem wilden Aussehen einfach nur ein Stück von München zeigt, das schon immer da war. Und können wir dann einfach mal die Ehrfurcht, den Hype und die Heiligsprechung gut sein lassen und cool bleiben? Das Schönste am Bahnwärter Thiel ist doch eigentlich: Wir müssen da nicht hin, aber wir können, wenn wir wollen.